Ein großes Lehrstück
Willi Kräuter war über viele Jahre das Gesicht des Verbandes und hat seine Wurzeln im Juz Neunkirchen. Sein Meisterstück sind die NACHRICHTEN, die Zeitung des Verbandes, die von ihm gegründet und über viele Jahre gestaltet wurde. Im Interview erzählt er uns seine Geschichte.
Du warst zuerst im Juz Neunkirchen aktiv. Erzähl mal, wie fing denn das an?
In Neunkirchen gab es seit 1973 die Initiative für ein Jugendzentrum. Das bekam ich mit und bin über Freunde dann 1974 dazugekommen. Es war damals für mich im Alter von 18 Jahren der Beginn der Suche nach politischem und gesellschaftlichem Engagement. Ich war damals schon politisch interessiert; Mein Vater war für die SPD im Gemeinderat von Wiebelskirchen.
Die Entstehung des Neunkircher Jugendzentrums begann im gleichen Zeitraum, bald kam das alte Sparkassengebäude in der Wilhelmstraße ins Gespräch. Dann ging alles recht schnell. Die seit dem Kriegsende in Neunkirchen regierende SPD entsprach weitgehend unseren Forderungen nach Selbstverwaltung, Finanzierung und selbst der Einstellung von zwei Sozialarbeitern durch den Juz-Verein. Da spielte wohl auch das Vertrauen zu einigen SPD-nahen Vereinsmitgliedern eine Rolle.
Wir hatten seit 1974 das wohl größte Juz nach dem späteren Saarbrücker Juz Försterstraße im Saarland. Selbst der Tresor war noch drin – ein Unikum. Er diente als Getränkelager. Drei Etagen boten genug Räume für den Veranstaltungsraum, Arbeitsgruppen, Büro und eine Teestube. Wir hatten eine Film AG, eine Konzert-AG und täglich offen. Alles war relativ bunt und breit angelegt mit unterschiedlichen Interessen- Gruppen, die das Haus nutzten.
Und schließlich hatten wir bald als einziges selbstverwaltetes Jugendzentrum zwei Sozialarbeiter, die wir selbst eingestellt hatten. Es folgte eine politische Erfahrung, die ich nicht missen möchte: Die beiden Sozialarbeiter kamen nämlich aus Bremen; und wie sich rasch herausstellte, waren beide – eine Frau und ein Mann – beim Kommunistischen Bund Westdeutschland engagiert. Im Bundestagswahlkampf 1976 wurde insbesondere die Sozialarbeiterin politisch aktiv, was zum großen Knall mit der Stadt führte. Vor allem die CDU suchte die Konfrontation, wonach es nicht sein könne, dass im Juz mit öffentlichen Mitteln Kommunisten angestellt wurden. Die öffentliche Anklage wurde aggressiv und hetzerisch geführt. Die politischen Auseinandersetzungen, die auch im Juz geführt wurden, werde ich nicht vergessen. Nach innen der Streit um den richtigen Weg, nach außen die Verteidigung des Juz, so etwa durch eine Demo während der Ratssitzung gegen die vorgesehenen Mittelkürzungen. Oder unsere Beteiligung am Fastnachtsumzug, bei dem wir den Oberbürgermeister, „de Migge-Pitt“ (Peter Neuber trug immer eine Fliege), auf die Schippe nahmen.
Mit all dem wird man in praktische Politik in der Kommune eingeführt. Die SPD hat versucht, etwas zu entkräften. Im Endeffekt wurden wir aber erpresst und mussten die Sozialarbeiterin entlassen. Aus Solidarität ist der Kollege auch gegangen, was ich sehr schade fand, da er für mich ein begnadeter Sozialarbeiter war, der auf die Probleme der Jugendlichen einging, ohne zu belehren. Die Sozialarbeiterin ging wieder nach Bremen, der Sozialarbeiter blieb und wurde später Leiter der Arbeitslosenselbsthilfe in Neunkirchen. Einen Sozialarbeiter durften wir noch einstellen, der dann auch viele Jahre blieb.
Mein Engagement im Jugendzentrum bezog sich vor allem auf den Vorstand, in dem ich die Finanzen verwaltete und die Juz-Zeitung, das „WILMHELMSTRÄSSCHEN“, gründete. Dabei habe ich immer wieder im Juz Leute angesprochen, Beiträge zu liefern. Neben eigenen Beiträgen erledigte ich die Gestaltung und gab den Druck in Auftrag. Es war ein sinnvolles Ineinandergreifen von den Aktivitäten im Juz und der Zeitung, die das abzubilden suchte und das monatlich. Da ich gerne gestaltete, beteiligte ich mich auch bei den Filmbroschüren des „Grünen Kinos“ im Juz und entwarf Plakate zu Veranstaltungen und Demonstrationen.
Im Juz war es toll mit den zahlreichen Konzerten und Theateraufführungen, auch mit Leuten, die später recht bekannt bzw. berühmt wurden, so z.B. Eddi Zauberfinger oder Alfons. Und ich habe auch meine Frau im Juz kennengelernt. Ich stand am Tresor des Juz und sie hat mir einen Ball an den Kopf geworfen, fast aufs Auge. Es war der Auslöser. Später hat uns der „Migge-Pitt“ getraut.
Ja, das Juz hat viele geprägt und lief viele Jahre richtig gut. Aber es gab natürlich auch Generationswechsel. Dabei nahm der Anteil der Engagierten und derer, die das Selbstverwaltungsparadigma verfolgen wollten, allmählich ab. Ein Schicksal, das wohl alle Jugendzentren betraf. Irgendwann wurde das Juz an den Stadtrand verlagert. Da gab es dann ständig Zerstörungen und dann – so Mitte der 80er Jahre – war‘s zu … bis viele Jahre später eine neue Initiative entstand, die heute in Zentrumsnähe erfolgreich wieder ein Juz betreibt.
So im Rückblick ist mir bewusst, dass das Juz eine Schule war. Im Gegensatz zur wirklichen Schule, die ich nie richtig mochte … bis auf die Schülervertretung, in der ich mich auch durch die Herausgabe einer Schülerzeitung engagierte.
Das Juz war für mich ein Kreativraum, in dem man sich verwirklichen konnte und das Leben kennenlernte, in Kultur und Politik. Mein Schwerpunkt lag eindeutig im politischen Engagement: Wie funktioniert Kommunalpolitik authentisch, aber auch die uns alle betreffenden Themen um Krieg und Frieden (z.B. NATO-Doppelbeschluss), die Anti-Atomkraftbewegung oder später die Auseinandersetzung um den § 218. Es war eine bewegte Zeit der kulturellen und politischen Initiativen und Aktivitäten.
Man hat mit dem Juz den Ort gehabt, an dem man das alles möglich werden lassen konnte.
Du warst auch viele Jahre beim Verband engagiert. Wie kam es denn dazu?
Über den „Gaucho“, den Helmfried Hauch, bin ich damals zum VSJS gekommen. Das war der „Übeltäter“, der Transmissionsriemen für mich. Der war im Vorstand des VSJS und hat mich einfach mitgenommen, und ist bald darauf nach Berlin abgewandert, wo er heute noch lebt. Und es hat mir gefallen, die engagierten Leute im damaligen Vorstand kennenzulernen und mit ihnen zu arbeiten. Das war 1975. Bald war ich Vorstandsmitglied, danach Vorsitzender und ab 1978 Zivildienstleistender beim Verband.
Der Reiz, einen Verband neu aufzubauen, war mein Ding, nämlich Vorstandstreffen, Vollversammlungen und Freizeiten organisieren, Juze besuchen, und nicht zuletzt – wie sollte es auch sonst sein – eine Verbandszeitung zu gründen. Die „NACHRICHTEN“ des Verbandes waren die logische Folge vom „WILHELMSTRÄßSCHEN“ im Juz Neunkirchen. Dazu kam die Entwicklung von Selbsthilfematerialien und Broschüren. Seminare wurden mit dem Paritätischen Bildungswerk (PBW) organisiert. Wir waren Mitglied des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (DPWV), der uns maßgeblich unterstützte, so mit einem Büro in dessen Haus in der Feldmannstraße in Saarbrücken. Für die Kooperation stand uns stets Hans-Joachim Trapp zur Seite, der viele Seminare didaktisch und methodisch professionell leitete. Übrigens waren er und unser Vorstandsmitglied Angelika Kraus, die mich für die Frauenrechte sensibilisierte, Anlass für meine Entscheidung, Soziologie zu studieren; denn beide sind Soziologen.
Wichtig und sehr viel Spaß gemacht hat mir der Kontakt zu den Juz’lern vor Ort … und eben bei den Freizeiten. Wir haben immer wieder Jugendzentren besucht, gemeinsame Veranstaltungen organisiert, die Leute bei den Auseinandersetzungen mit der örtlichen Politik unterstützt, die ein oder andere Rede gehalten, ein bisschen „Revolution“ gespielt.
Hinzu kamen schließlich die Kontakte und die Zusammenarbeit auf Bundesebene. Es war für mich interessant, mit den Leuten die Entwicklung der Bewegung bundesweit zu erfahren und zu diskutieren. Wohin geht die Jugendzentrumsbewegung? Wie können wir die Selbstverwaltung auf Dauer erhalten? Widersprechen kommunale Sozialarbeiter der Selbstverwaltung? waren einige der vielen Themen, denen wir uns widmeten. Ich erinnere mich an ein Organisationstreffen in Heidelberg in einer tollen Villa und an eine Vollversammlung in Nürnberg. Als Jugendlicher die Diskussionen zu erleben und seine Erfahrungen mit einzubringen, z.B. mit Tiedeke Heilmann von der AG SPAK (Arbeitsgemeinschaft sozialpolitischer Arbeitskreise), der für einige Jahre die Kooperation leitete, war natürlich das i-Tüpfelchen der Bewegung.
1978 fand ein Bundestreffen in Neunkirchen statt, das ich organisieren konnte. Themenschwerpunkt bildete die Diskussion um Sozialarbeiter; ja oder nein, und der Kampf gegen die Kommunalisierung der Juz-Bewegung. Wir konnten ja unsere spezifischen Erfahrungen mit Sozialarbeitern im Juz Neunkirchen einbringen. Ich erinnere mich noch an eine ziemlich heftige Auseinandersetzung zum Pro und Contra.
Die Verbandsarbeit bedeutete für mich die Erfüllung meiner Suche nach sinnvollem Engagement und die beste Schule, die ich mir wünschen konnte.
So im Rückblick: Was bleibt von der Juz-Bewegung der 70er Jahre?
Also wenn ich mir heute die Geschichte der Jugendzentrumsbewegung nochmal anschaue, muss ich zuerst mal feststellen, das alles hätte es wohl nicht ohne die 68er Bewegung gegeben. Das war das erste Aufbegehren der Jugend nach dem Krieg. Die Jugend hatte den Krieg nicht erlebt, und die Eltern haben entweder das Maul gehalten, haben sich geschämt oder haben gesagt: Es war doch auch etwas Gutes daran. Das hab ich oft gehört. Mein Vater hat mir allerdings einiges erzählt, weswegen ich mich in der Folge mit dieser Zeit sehr beschäftigte, um das zu verstehen, was man eigentlich nicht verstehen kann. Man stellt sich das gar nicht mehr vor, wie diese 13 Jahre Nazismus in die Köpfe der Menschen gewirkt haben. Viele Menschen sind aus dem Denken des Nationalsozialismus lange nicht rausgekommen. Und die Institutionen der neuen westdeutschen Gesellschaft, z.B. in der Justiz, in der Wirtschaft, aber auch in der Bundesregierung, waren mit Ex-Nazis durchsetzt. Die Nachkriegsgesellschaft war lange
geprägt von ihrer Vorzeit. Deutschland war sehr konservativ: Die Mutter am Herd. Die Prügelstrafe in der Schule, die gab es ja auch noch lange Zeit. Erst ab 1976 durften Frauen endlich selbst darüber entscheiden, dass sie ohne die Zustimmung des Ehepartners beruflich tätig werden dürfen. Das war bis 1976 rechtlich nicht möglich.
Also, es gab Dinge, die heute unfassbar sind. Die Nachkriegsgesellschaft war ein unglaublich verkrustetes System, das Demokratie erst lernen musste. Mit der 68er Bewegung kam der Umbruch zum Ausbruch. Der jungen Bevölkerung – insbesondere der Studierenden – wurde endgültig klar, dass die Gesellschaft so strukturell konservativ, wie sie damals war, nicht bleiben darf. Der Konservativismus der Bundesrepublik war einfach unerträglich geworden. Politisch hat das erst die SPD mutig unter Willy Brandt aufgegriffen. Brandts Ausspruch zu „Mehr Demokratie wagen“ war ein großes Bekenntnis, ja eine Vision, demokratische Prozesse anzustoßen. Es wurden sehr viele Hoffnungen damit verbunden.
Ohne die 68er Bewegung gäbe es keine Juz-Bewegung. Die Ideen dieser revolutionären Bewegung hat die Juz-Bewegung damals im Punkt auf mehr Selbstbestimmung aufgegriffen. Es folgte eine regelrechte Explosion des Engagements für selbstverwaltete Jugendzentren. Das ist im ganzen Land hochgeschossen Anfang/Mitte der 70er Jahre. Das gibt es jetzt natürlich so nicht mehr. Aber was bleibt ist, dass es heute überall Jugendzentren gibt, wenn auch nicht immer selbstverwaltet. Und da bin ich schon begeistert über unsere Geschichte. Weil, man hat durch die Juz-Bewegung gesellschaftlich etwas Neues geschaffen. Zum Beispiel, dass es in keinem politischen Gremium heute mehr die Frage darüber gibt, ob wir Jugendtreffs brauchen. Und dass Jugendliche ganz eigene Interessen und Bedürfnisse haben, die in den Kommunen berücksichtigt werden müssen.
Mich persönlich hat diese Zeit beim Verband natürlich geprägt, da hat sich auch etwas entwickelt, das hat auch zu tun mit dem Sinn des Lebens. Dass du für ein besseres Leben kämpfst. Dass du Fehler erkennst in dem gesellschaftlichen System, in dem du lebst und das du im Grunde in seiner demokratischen Verfassung anerkennst, aber besser machen willst. Insofern, dank der 68er Revolution, die den Anschub gegeben hat, konnten wir uns in geschützten Räumen verwirklichen. Und ich denke, wir hatten dadurch eine richtig, richtig tolle Zeit des Lernens. Das war ein großes Lehrstück.
Welche Folgen ich noch für mich erwähnen möchte: Na, mein Studium zum Beispiel. Der Eintritt für die Frauenrechte führte Ende der 80er Jahren dazu, dass ich mich bei der Pro Familia Neunkirchen engagierte, deren Vorsitzender ich nunmehr seit über drei Jahrzehnten bin. Mein Engagement in der SPD führte mich u.a. für 20 Jahre in den Kreistag in Neunkirchen, in der zweiten Hälfte zum Vorsitzenden der Fraktion. Aber mit 68 Jahren ist es Zeit, dass die Jugend übernimmt. Und … eine Zeitung mache ich heute noch.