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Verband saarländischer Jugendzentren in Selbstverwaltung e.V.

Das Juz Open Haus ist das erste von bisher drei Jugendzentren in Homburg.  Im soziokulturellen Umfeld der saarländischen Kleinstadt Homburg in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde der Gymnasiast Ali M. mit der Widersprüchlichkeit und Unglaubwürdigkeit der Werte und Prinzipien seiner kleinbürgerlich-proletarischen Herkunftsfamilie, der katholischen Kirche, des bildungsbürgerlichen Gymnasiums sowie der damaligen politischen Institutionen und Organisationen konfrontiert.

Ali M. fand im Umfeld des selbstverwalteten Jugendzentrums Open Haus und anderer saarländischen Jugendzentren Menschen, Werte und Prinzipien, die sich unter der Rubrik „Woodstock Culture“ einordnen lassen als attraktive Alternative.

Neben den konkreten Praxiserfahrungen einer selbstständigen Organisation des Alltags eines Jugendlichen lieferten vor allem Musik, Filme und Bücher bzw. die mit diesen Medien transportierten Ideen die notwendige Orientierung auf dem Weg zu einem Selbst. 

Sterne vom Himmel holen …. Durch selber machen zum Selbst werden. Das Homburger Jugendzentrum Open Haus als kultureller und politischer Erfahrungs- und Lernraum.

Damit beginnt diese Geschichte.

Die Werte, Prinzipien und Lebenspraktiken, denen Ali M. damals vor 50 Jahren begegnet, zunächst im sozialen Kontext der Herkunftsfamilie (Elternhaus, Verwandtschaft, Freundschaften), dann in der Katholischen Kirche, dann in der weiterführenden Schule, dann in Form der kommunalen jugend- und sozialpolitischen Angebote, dann in den propagierten Werten & Prinzipien des damaligen sozio-kulturellen Kontextes in der Bundesrepublik, erwiesen sich nach und nach entweder als ideologische Lügen und Betrug oder als Marketingelemente im Rahmen einer Konsumgesellschaft.

Ali M. findet eine Resonanzfläche für sein Lebensgefühl in den Werten, Prinzipien und Praktiken, die mit dem Begriffen Gegenkultur und Woodstock Culture verbunden werden.

Dass diese – eingebettet in die Mainstream-Kultur – im Keim einen eher dystopischen Beigeschmack hatten, entging ihm damals. Die Botschaften der Gegenkultur versprachen „Love, Peace and Harmony“, im Gegensatz zum „Jeder gegen jeden“ der Konkurrenz-, Konsum-, und Leistungsgesellschaft. Wie vielen Jugendlichen damals erschienen Ali M. die Werte der Gegenkultur oder Woodstock Nation als weniger lügnerisch und betrügerisch als diejenigen der vorherrschenden und propagierten Kultur.

Es hat einige Zeit gebraucht, bis Ali M. realisierte, was Frank Zappa mit der LP „We’re only in it for the money“ ausplauderte. Die Werte, Prinzipien und Praktiken der Gegenkultur erwiesen sich zurückblickend zumindest als widersprüchlich und ambivalent, wenn nicht sogar als realitätsfern.

Das Lebensmodell Gegenkultur erwies sich freilich damals – und genau mit dieser Funktion kann es heute immer noch angewendet werden – als Maßstab für die kritische Bewertung der Angebote, Forderungen und Praktiken der jeweils aktuell vorherrschenden Mainstream-Kultur.

Das große Versprechen der damaligen Gegenkultur, ein realisierbares und praktikables Modell für ein anderes und besseres Leben zu sein, ist nicht eingelöst worden. Dieses ist bis heute ein Traum – und vielleicht gerade deshalb – eine virulente Vision geblieben. Genauso hatte es John Lennon allerdings auch damals mit „Imagine“ beschrieben.

Orientierung 1: “… using ideas as my maps” (Bob Dylan)

Ali M. orientiert sich bei der Suche nach einem Gegenentwurf zum Bestehenden, nach der Gegenkultur, unter anderem an der Songzeile We have to change the world, rearrange the world (Crosby, Stills, Nash & Young) 

Im Jugendzentrum traf er auf Menschen, die ebenfalls mit dem Bestehenden unzufrieden waren oder sogar daran litten oder gar nicht damit zurechtkamen. Man war sich zumindest darin einig, das Bestehende rundweg abzulehnen. Wir wussten ja, erstens, „The times they are a-changin‘“ (Bob Dylan) und zweitens Time is on my side (Rolling Stones). Einige suchten nach Alternativen, die ein besseres Leben zum Ziel hatten. In Sinne des using ideas as my maps (Bob Dylan) waren es für Ali M. seit er denken und lesen konnte die Geschichten in den Büchern, u.a. die Geschichten des Odysseus und des Sysiphos, die als orientierende Leitsterne die Vorgabe lieferten. Erst viel später entdeckte der dann junge Mann als Studierender den Appell eines gewissen Karl M. aus Trier als handlungsorientierende Idee, nämlich den „kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW, I, 385). 

Das Beispiel des Odysseus zeigte, dass es niemals einen Rückweg gibt. Das wusste er auch schon von Bob Dylan: No direction home. Dies bestätigte ihm auch die Lektüre und Verfilmung von Milan Kunderas „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“. Das Beispiel des Sisyphos im Sinne von Albert Camus forderte sogar dazu auf, sich solche heimat- und ortlosen Figuren als glücklich vorzustellen. Keine leichte Aufgabe. Aber er war nicht allein. Jugendliche wie er, die er im JuZ traf, sangen lauthals mit, wenn aus dem Lautsprecher der JuZ-Verstärkeranlage Schroder Roadshow lief – und als wir gelernt hatten, dass es nicht nur Männlichkeit, sondern auch Weiblichkeit und alles dazwischen und darüber hinaus auf der Welt gibt, waren auch die Mädchen, die Schwestern, und alle lebendigen Menschen mit dabei: 

„Wir sind die Brüder (und Schwestern, AM) der romantischen Verlierer,
auf dieser kleinkarierten Welt,
wo euch weiter nichts zusammenhält,
als die Macht und die Moral vom großen Geld.
Doch immer wieder,
wagen wir den Neubeginn,
der Phantasie,
immer wieder,
knüpfen wir ein neues Band,
der Harmonie.
Gegen euren Wahnsinn,
der nach System und Plan die Welt zersetzt,
Gegen euch,
haben wir den Mut zur Freiheit gesetzt.“
(Schroeder Roadshow)

Keine leichte Aufgabe. Wie damals, so auch heute … es ist wie es ist. 

Damals war es der Übergang von Kindheit und Jugendzeit in Richtung Erwachsenen-Existenz, heute ist es für ältergewordene Leute wie Ali M. der Übergang vom Berufsleben zu einem guten Leben im Alter. 

Nichts ist zuende. Wir stehen immer am Anfang.

Geschichten und Ideen, später die Songzeilen, waren für Ali M. immer so etwas wie rettende Strohhalme. Aus denen band er sich, sinnbildlich gesprochen, sein Rettungsfloß zusammen. Auf diesem Floß ist er vorangekommen und nicht untergegangen. Es trägt ihn heute noch.

Orientierung 2: „Sterne vom Himmel holen“ (Thommie Bayer)

„Ich hol‘ dir keine Sterne mehr vom Himmel. Die liegen danach bei uns zuhause doch nur rum“ – so eine Songzeile von Thommie Bayer ab 12:09 Min.) auf dem Folk-Thing des JuZ Dillingen 1978. Wir wollten damals als Jugendliche, die sich in saarländischen Jugendzentren in Selbstverwaltung trafen, Sterne für uns vom Himmel holen. 

Was waren unsere Leitsterne? Viele von uns orientierten oder retteten sich – wie schon erwähnt – an den Werten und Zielen, die sich unter dem Begriff Woodstock Culture subsumieren lassen. Joni Mitchell hatte dieses Selbstverständnis in ihrem Song Woodstock auf den Punkt gebracht:

„I’m going to try an‘ get my soul free
We are stardust
We are golden…

By the time we got to Woodstock
We were half a million strong
And everywhere there was song and celebration
And I dreamed I saw the bomber-jetplanes
Riding shotgun in the sky
And they were turning into butterflies
Above our nation“ 

Ali M. und viele andere waren beseelt davon, dass sie es gemeinsam schaffen könnten, die Welt zum Besseren zu verändern. Sie waren kühn genug zu glauben, dass sie sowohl die Richtung als auch das Ziel kannten. Sie waren es satt, „auf das Ende der Vermutung zu warten, dass es bessere Formen menschlicher Gemeinschaft gibt“ (Rolf Niederhauser). Sie wussten „Was die Bäume sagen“ (Stephen Diamond). Sie hatten die Mahnung des First Nation-Chiefs Seattle und die „Rauchzeichen“ (Cochise & Piet Budde), dass man Geld nicht essen kann verstanden. 

Sie verweigerten sich einer Kultur, wie sie ihnen von Eltern, Großeltern, LehrerInnen, PfarrerInnen und PolitikerInnen und vom öffentlich-rechtlichen Deutsche Fernsehen gepredigt und vorgeführt wurde.

Selber machen: JuZ-Alltag organisieren

Schauen wir uns, wie eingangs erwähnt, einige Aspekte der Wirklichkeit des JuZ-Jugendlichen Ali M. an. 

Die Geschichte spielt in Homburg, im Umfeld des selbstverwalteten Jugendzentrums Open Haus. Das JuZ Open Haus lag in einem kleinbürgerlichen Wohngebiet, im Ulmenweg in der Homburger Birkensiedlung. Über die kommunalpolitischen Schach- und Winkelzüge, die dazu führten, dass die Nutzung des Gebäudes von einer Mehrheit des Homburger Stadtrates dem „Verein für drogengefährdete Jugendliche e.V.“ anvertraut wurde und dass das Kreisjugendamt einen bescheidenen Jahresetat zur Verfügung stellte, wusste Ali M. zunächst noch nichts. Die Vertreter der Gründergeneration waren zwar bekannt, aber als Ali M. zum ersten Mal das JuZ Open Haus – er hatte im Schulhof des Knabenrealgymnasiums Homburg einen Programmzettel von einem Mitschüler bekommen – wegen des wöchentlichen Filmprogramms besuchte,  waren die „Gründerväter“ – es waren nur Männer – schon dabei, sich aus der Alltagsarbeit im JuZ zurückzuziehen. 

Alltagsarbeit, das hieß u.a. Vorbereitung und Durchführung der Vollversammlung jeden Sonntagnachmittag. Die Vollversammlung war der Ort an dem alle notwendigen und wichtigen Entscheidungen für den JuZ-Betrieb von den Jugendlichen beraten und entschieden wurden. So waren u.a. die Öffnungszeiten, der Thekendienst und der Getränkeeinkauf zu organisieren. Konzerte waren zu planen und durchzuführen. Das Filmprogramm mit den Jugendlichen der Jugendzentren in St. Ingbert und Neunkirchen war zu planen, die Filmprogramme waren zu layouten und auf der JuZ-eigenen Druckmaschine zu drucken. Die Filmprogramme wurden von den Mitgliedern der Film AG in der Stadt verteilt. Die Filme wurden sonntags vorgeführt. Der Kurs zum Erwerb eines Filmvorführscheins musste beim Kreisjugendamt absolviert werden. Die Filme wurden im JuZ-Neunkirchen oder JuZ-St.Ingbert abgeholt und wurden montags wieder an den Filmverleih zurückgesandt. Ali M. engagierte sich zunächst in der Film AG. Er war dann bald auch dabei, wenn es darum ging, mit dem Kreisjugendpfleger die Anschaffung eines Filmprojektors und den nächsten Jahresetat für das JuZ zu verhandeln.

Auch für Thekendienste und die Teilnahme an den wöchentlichen „Cleaning-Actions“ fühlte er sich mitverantwortlich. 

Die Teilnahme an den Vollversammlungen wurde zu einer Selbstverständlichkeit. Hier kam der ehemalige Messdiener und Gymnasiast zum ersten Mal mit Jugendlichen der Homburger Drogenszene und mit Gleichaltrigen, die keinen Schulabschluss vorweisen konnten und oftmals die Lehre abgebrochen hatten und von denen einige „auf der Straße“ lebten, in Kontakt. 

Sowohl für die gymnasialen „Laber-Heinis“, dazu zählte bald auch Ali M., wie auch für die Drogies, gab es den unausgesprochenen Konsens, dass das Open Haus allen gehört und dass alle dafür gleichermaßen verantwortlich waren, und auch dass dies so bleiben konnte. Es „knallte“ auch ab und an, wenn auf der Vollversammlung völlig unterschiedliche und mitunter gegensätzliche Weltsichten aufeinanderprallten und nach einer Lösung, mit der alle leben konnten, gesucht wurde. 

Zuweilen wurden Vielredner dadurch ausgebremst, dass irgendjemand einfach lauthals zu lachen begann und damit den Redeschwall torpedierte. „Gelebte Anarchie. Geht doch!“, war als Kommentar danach an der Theke zu hören als sich die ersten Besucher für den Sonntagabend-Film einfanden.

Die Musik

Wichtig war die Musik. Das war einmal Musik hören und dann aber auch Musik machen: 

Diejenigen, die sich für den Thekendienst eingetragen hatten, bestimmten das Musikprogramm des Abends. Zu hören gab es nicht nur die Rock-Musik-Top 10, sondern auch Jazz und Krautrock und vieles andere.

Vom Jugendzentrum aus wurden gemeinsame Konzert-Besuche in der näheren und weiteren Umgebung gestartet. Vieles ist vergessen, in Erinnerung geblieben sind Konzerte in Bexbach: Kraan, Guru Guru, in Zweibrücken: Ekseption, Beggars Opera, Chicken Shack; in Saarbrücken: Zappa, Santana und Joan Baez, aber auch T.Rex; in Kaiserslautern: Canned Heat und West, Bruce & Laing; in: Ludwigshafen: Yes, Emerson, Lake & Palmer.

Im JuZ Open Haus trafen sich auch Jugendliche, die Musik nicht nur hören, sondern selber machen wollten. So neben einigen anderen Bands die Mitglieder der Folkie-Band „Spottdrossel“. Bei Spottdrossel mischte neben Ute Sch., Sabine Sch., Sabine W. und Ralph D. auch Ali M. mit. Nun ja, Geld für eine richtige Anlage mit Verstärkern und Boxen und Licht konnten sie nicht aufbringen. Also machten die fünf aus der Not eine Tugend: Sie machten einfach ihre Musik mit dem, was aufzutreiben war: Akustische Gitarren mit Stahl- oder Nylon-Saiten, Blockföten, Harmonika, Bongos und Conga. Einige beherrschten ein paar Gitarrengriffe und ein paar Lied-Melodien. Sie wagten sich auch vor Publikum zu singen und die Instrumente zu bedienen. Bald hatten sie einige Songs aus der Liedermacher-Szene im Repertoire. Kühn erlaubten sie sich auch einige, eigene Gedichte zu vertonen. Sie bedienten sich aber auch ganz frech bei Heine über Brecht bis Klabund – ohne an Kopie und Plagiat einen Gedanken zu verschwenden. 

Spottdrossel verstand ihre Musik und Texte durchaus als politische Stellungnahme u.a. zu den faschistischen Neo-Nazi-Szene in Homburg und Umgebung. (Scan des Plakates zur Antifa-Veranstaltung einfügen). Sie verstanden sich durchaus als Antifaschisten, spätestens als ein JuZ’ler, nämlich Dirk W., die damals aktuelle Homburger Neo-Nazi-Szene ausgekundschaftet und dazu eine Broschüre veröffentlicht hatte. 

Die Spottdrossel-Leute kannten auch die Informationen zur Reichskristallnacht in Homburg. Sie waren entsetzt und empört darüber, dass hier sogenannte unbescholtene Homburger Bürgerinnen und Bürger die jüdische Synagoge am Markplatz in Brand setzten und sich dann anschließend in einem Umzug über jüdische Mitbürger lustig machten. Ohne Skrupel lieferten solche unbescholtenen Homburgerinnen und Homburger zahlreiche ihrer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger an die SS- und SA zum Abtransport in die KZs ab.

Selber machen: Wir haben etwas zu sagen und tun das auch; die Gedichtbände; „I can‘t keep from cryin‘ sometimes“ (Al Kooper) & die Zeitung: „say it out loud“ (James Brown)

(Al Kooper: https://www.youtube.com/watch?v=8O8bYupe24w) 

(James Brown: https://www.youtube.com/watch?v=9bJA6W9CqvE) 

Wenn schon eine Druckmaschine im Keller stand und die JuZ-Zeitung „Guckloch“ (hier link zu VSJS/ JuZ United-Jubiläums-Seite einfügen) dort gedruckt wurde, dann war es doch auch möglich, eigene Texte zu drucken und unter die Leute zu bringen. Klar, gab es sofort Kritik und Spott, vor allem an den Gedichten aus den eigenen JuZ-Reihen: Die Gedichte seien nichts anderes als „pubertäres, weinerliches Weltschmerz-Geseiere“. Einige der Macherinnen und Macher ließen sich jedoch nicht beirren und beharrten auf ihrem Recht sich zu äußern „… wenn diese Welt zum Heulen und Jammern ist, dann habe ich das Recht auch genau das zu tun“. Hatten nicht die Vertreter der Beat-Generation – und allen voran Allen Ginsberg mit seinem Gedicht „Howl“, damals in San Francisco, im City Light Bookstore, genau das getan?: „ I saw the best minds of my generation destroyed by madness, ….“. Nein, weder die Deutschlehrer, noch die Literaturkritiker aus DER ZEIT und der FAZ, und schon gar nicht die selbsternannten Kritiker und Kritikerinnen aus den eigenen JuZ-Reihen, konnten die jugendlichen Literatinnen und Literaten stoppen. Sie hatten etwas zu sagen und das taten sie auch, und wenn die Wirklichkeit zum Jammern und Heulen war, dann ließen sie sich auch Jammern und Heulen nicht verbieten.

Sie schrieben nicht nur Gedichte, kleine Geschichten und machten und hörten zusammen Musik. Sie nahmen sich auch die Freiheit, das Geschehen um sie herum mit publizistischen Mitteln u.a. Handzettel, Flugblätter, Plakate bis eigene Zeitungen zu kommentieren. Auf das „Guckloch“ folgte die Homburger Stadtzeitung „Provinz-Blatt“ (Hier wieder verlinken mit VSJS/JuZ United-Jubiläumsseite). Sie mischten sich lautstark und unüberseh- und unüberhörbar als Jugendliche und junge Erwachsene mit ihren Statements in das Geschehen der Kreisstadt Homburg ein. Sie hatten begriffen und eingeübt, was Politik in einem demokratischen Verfassungsstaat hieß: „Politik heißt Selbermachen“ (Maas/Maas/ Schwarz 1977). 

Politik im JuZ Open Haus: Anti-militaristisch! Anti-amerikanistisch? Aversiv gegen institutionalisierte Politik!

„Was wolle na dann verteidiche? Eier Vaterland? Eier Vadder hat kenn Land, nur e Stiggelche Gade“ so Altstadter Künstler Hans E. Schwender, der bei den JuZ-Jugendlichen ein hohes Ansehen besaß. Er lieferte den entscheidenden Gedanken als für die männlichen Jugendlichen – so auch für Ali M. – der Militärdienst bei der Bundeswehr am zeitlichen Horizont erkennbar wurde. Hatten nicht die Philosophen Bertrand Russell und Jean-Paul Sartre mit dem „Vietnam Tribunal“ die brutalen Kriegsverbrechen der USA in Vietnam vor die Weltöffentlichkeit gebracht?

Hatte nicht Country Joe McDonald in Woodstock den „The Fish-Cheer/ Like i‘m fixin-to-die-rag“- Song vorgetragen:

„Give me an F! …F! give me a U! …U!
Give me a C! …C Give me a K! …K!
Whats that spell? …FUCK!
Well come on all of you big strong men, Uncle Sam needs your help again,
he got himself in a terrible jam, way down yonder in Vietnam,
put down your books and pick up a gun, we’re gonna have a whole lotta fun.
And its 1,2,3 what are we fightin‘ for?
Don’t ask me i don’t give a damn, the next stop is Vietnam,
and its 5,6,7 open up the pearly gates. Well, there aint no time to wonder why…Whopee, we’re all gunna die.“

 

Hatte nicht Buffy Sainte-Marie vom „Universal Soldier“ gesungen?

He’s five feet two, and he’s six feet four
He fights with missiles and with spears
He’s all of thirty-one, and he’s only seventeen
He’s been a soldier for a thousand years
He’s a Catholic, a Hindu, an Atheist, a Jain
A Buddhist, and a Baptist, and a Jew

And he knows he shouldn’t kill, and he knows he always will
Kill you for me, my friend, and me for you.“

… und Donovan „The War drags on“ 

„Let me tell you the story of a soldier named Dan
Went out to fight the good fight in South Vietnam
Went out to fight for peace, liberty and all
Went out to fight for equality, hope, let’s go
And the war drags on.“

… und Bob Dylan von den „Masters of War“? 

Viele männliche Jugendliche ím JuZ Open Haus entschieden sich dafür den „Wehrdienst“ zu verweigern. Ihr Anliegen schriftlich abzufassen und vor einem 7-köpfigen Komitee in Saarbrücken vorzutragen und zu verteidigen und sich – bei Anerkennung – eine Zivildienststelle zu suchen. Die jungen Männer verstanden sich damals – und einige verstehen sich auch heute, trotz und gerade angesichts der Massaker in der Ukraine und in Israel und Palästina und an vielen Stellen in der Welt, noch so – als entschiedene Anti-Militaristen.

Die größte US-Airbase außerhalb der USA, Ramstein Airbase, lag vor der JuZ-Haustür. Amerikanische GIs waren die Drogendealer, die die Jugendlichen der Homburger Drogenszene mit allen Arten von Drogen versorgten. Ali M. musste erleben, dass auch mehrere Leute aus dem JuZ Open Haus zu Heroin-Junkies mutierten oder sich mit LSD und anderen synthetischen Drogen um den Verstand brachten. Das war ebenfalls ein Teil des Alltags als Jugendlicher im JuZ Open Haus.

Amerikanische Militär-Killer und Drogendealer – das war das Amerika, mit dem wir damals in Homburg auf dem Marktplatz, dem „Prisunic-Platz“, und leider auch im JuZ Open Haus konfrontiert waren.

Kinder – nicht nur in Homburg – wuchsen damals in einem öffentlichen Klima auf, das von Politik und allen Medien, von Zeitungen über Radio bis zum Fernsehen, vor allem aber auch durch die Schule, als ausgesprochen „westlich orientiert“ und „amerikafreundlich“ geprägt wurde. 

Als Kinder konnten sie – Ali M. eingeschlossen – auf den jährlichen Flugtagen in Ramstein nie genug bekommen von dem leckeren Softeis in den Tetrapacks. 

Die Eltern erzählten Geschichten aus ihren Kindertagen als die amerikanischen Soldaten in den letzten Tagen des 2.Weltkrieges in Homburg einmarschierten und Kaugummi und Bonbons verteilten. Sie erzählten uns weniger von dem Bombardement der Alliierten auf Homburg. „Die Amerikaner haben uns von den Nazis befreit“, hieß es. 

Später wussten die Eltern dann von den ausgelassenen Tanzparties mit Rock & Roll von Bill Haley und vor allem Elvis Presley zu erzählen. 

Im Schulunterricht erfuhren die Jugendlichen dann von den United States of America als dem Land der Tapferen und Freien und dass Amerika und die NATO die Westdeutschen vor dem Kommunismus und den Russen schützen. Auf der obligatorischen Berlin-Klassenfahrt ging es gleich nach dem Blick über den Todesstreifen auf heruntergekommene graue Häuserfronten vom Aussichtsturm an der Mauer beim Checkpoint Charlie direkt zum Amerika-Haus. Dort gab es dann Kuchen und Kakao. Wer wollte, konnte auch Kaffee bekommen. An den Inhalt des Filmvortrages kann Ali M. sich heute allerdings nicht mehr erinnern.     

Man war kein Gegner Amerikas. Ali M. und einige andere wussten aber bald, dass es auch ein anderes Amerika gab, als dasjenige, das mit der Ramstein-Airbase, den Radiostationen wie American Forces Network (AFN), dem Werbefernsehn und dem Amerika-Haus in Berlin präsentiert wurde. 

Diese Jugendlichen hatten längst von David Thoreau, Martin Luther King, den Gebrüdern Philip und Daniel Berrigan, dem Zivilen Ungehorsam und dem Gewaltfreien Widerstand gehört. 

Neben dem erwähnten Altstadter Künstler waren es neben Bertrand Russell und Jean-Paul Sartre, die Gedanken dieser Amerikaner, die ihnen nach der Schulzeit halfen, ihren Weg zu finden und zu gehen.

Sie wussten spätestens seit den Morden an John F. Kennedy, Martin Luther King, Robert Kennedy, Malcolm X, Bobby Seal, und ja, auch an Sharon Tate und John Lennon,… – die Liste ist lang und reicht bis in die Gegenwart – dass in den Vereinigten Staaten Schußwaffenbesitz und Mord zu oft den us-amerikanischen Alltag bestimmen. 

Einige wussten damals  auch, was es mit dem People’s Park, dem Berkeley University Free Campus, mit Herbert Marcuse, mit Angela Davis, mit Jerry Rubin und den Hippies und ersten Landkommunen in Kalifornien auf sich hatte. 

Diese Jugendlichen wussten, wer George Jackson und die Black Panthers waren: „You don’t need a weatherman to know wich way the wind blows (Bob Dylan) . Auch hatten sie die us-amerikanischen Leichtathleten mit erhoben Fäusten auf dem Olympia-Siegertreppchen im Fernsehen wahrgenommen. 

Sie wussten auch von den von der National-Garde erschossenen Studierenden auf dem Gelände der Kent State University in Ohio: Four dead in Ohio (Crosby, Stills, Nash & Young)  . Sie wussten von dem Geschehen um dem Parteikonvent der Demokraten 1968 in Chicago mit den Chicago Seven und dem us-amerikanischen Präsidenten Richard Nixon. Dessen Namen hatten sie auch im Zusammenhang mit dem Watergate-Skandal 1972 gehört.

Sie konnten auch mit dem Massaker von Wounded Knee, als das 7. US-Kavallerie-Regiment die Sioux im Pine Ridge-Reservat niedermetzelten, etwas anfangen und sie wussten, dass dies nicht das einzige Massaker war, dass US-Amerikaner im 19. Jahrhundert unter Angehörigen der First Nations verübt hatten und im 20. Jahrhundert an vietnamesischen Zivilisten in My Lai. 

Sie wussten sowohl von der Südstaaten-Sklaverei als auch von Abraham Lincoln und Thomas Paine und auch vom aktuellen Rassismus in den USA.

Das Amerika-Bild der Jugendlichen und jungen Erwachsenen gewann seine Konturen mit den Mark Twain-Gestalten Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Ja, auch Hermann Melvilles „Bartleby, der Schreiber“ und Kapitän Ahab und Ismael und Starbuck aus „Moby Dick“ waren bekannt. 

Sie wussten um die Anführer der First Nations: Tecumseh, Geronimo, Chief Joseph, Sitting Bull und Crazy Horse, und vielen anderen.

Sie wussten längst, wer Allen Ginsberg, Jack Kerouac, die Beatnik-Dichter und -Musiker und Bob Dylan und Joan Baez waren. 

Sie wussten auch, dass Captain America, letztendlich vergeblich nach seinem Amerika suchte. Sie alle hatten „Easy Rider“ spätestens im Open Haus-Kino –  gesehen und kannten seitdem den Unterschied zwischen dem reaktionären neo-faschistischen Redneck-Amerika und dem Amerika, das repräsentiert wurde und wird von Woodstock-Nation, Literatur und Musik.

Neben dem politisch brutalen Amerika – und das soll an dieser Stelle nicht unterschlagen werden – sind viele, auch Ali M. damals unkritisch und naiv Opfer eines eigenartigen blinden Fleckes ihrer Wahrnehmung geworden: Keine der Gestalten und Geschichten ihres – positiven – Amerika-Gegenkultur-Woodstock Nation-Bildes  beinhaltet und schildert eine zukunftsfähige Utopie. Alle Personen und Geschichten enden in der Katastrophe und dystopisch. Easy rider endet tödlich, Woodstock versinkt am Ende in Müll und Matsch. Der Mythos Woodstock Nation wird von der Kultur- und Konsumindustrie als Film- und Musik-Ware für einen weltweiten Markt zugerichtet und verkauft. Wollten sie dies nicht sehen und wahrhaben?

Vielleicht waren es insgesamt die Enttäuschungserfahrungen in Bezug zu den Orientierungen und Werten der Herkunftskultur, im Elternhaus und dem familiären Umfeld, in Bezug zu den propagierten Werten und Prinzipien der Katholischen Kirche, in Bezug den in der weiterführenden Schule vermittelten Werten des Bildungsbürgertums und anderer gesellschaftlicher Instanzen, die bei Ali M. und der Mehrzahl der Open-Haus-Aktiven zu dem erwähnten blinden Fleck aber auch zu einer gewissen Immunisierung gegenüber allen Hierarchie- und Dogma-verdächtigen autoritären Politikstrukturen, Institutionen und Organisationen führten.

Ali M. erinnert sich an ein Gespräch über die Sicherheit von Atomkraftwerken (AKW) mit jemanden, dessen Sozialistische Deutsche Arbeiter Jugend (SDAJ)-Mitgliedschaft kein Geheimnis war. Der SDAJ’ler argumentierte, dass in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) die AKWs als volkseigene Betriebe (VEB) organisiert seien und deshalb wesentlich sicherer seien als AKWs in privatwirtschaftlich-kapitalistischen Ländern wie der Bundesrepublik. Auf den Einwand, dass physikalische Gesetze auch für VEBs gelten und die Frage der Endlagerung auch für VEBs nicht geklärt sei, wusste er nichts zu erwidern. 

Etwas Ähnliches wiederholte sich anlässlich einer Diskussion zu der Einschätzung des Nato-Doppelbeschlusses bzw. der Frage wie man auf die Stationierung von Mittelstreckenraketen, seien es Pershing II oder SS 20, politisch reagieren könne. Es sei schließlich egal, ob man von einer Nato-Rakete oder einer Warschauer Pakt-Rakete oder im Kriegsfall von beiden einen mehrfachen atomaren Overkill zu erwarten habe. 

Politische Vereinnahmungsversuche oder Agitation fanden insgesamt bei Open Haus-Leuten wenig bis keinen Widerhall. Man orientiert sich im JuZ Open Haus politisch auch nicht an einer der damaligen kleinen und größeren politischen Parteien oder anderer politische Organisationen. Vielleicht am ehesten noch an Positionen, wie sie in Ton Steine Scherben-Song Keine Macht für niemand formuliert wurden.

Die Verweigerung gegenüber allen Dogmen und Hierarchien bedeutete aber keinesfalls, dass man – wie erwähnt – auf politische Meinungen und Positionierungen verzichtete. Die journalistische Einmischung und Kommentierung des kommunalen Geschehens in der JuZ-Zeitung „Guckloch“ und der Homburger Stadtzeitung „Provinz-Blatt“ wurde schon genannt. 

Auch waren – Joni Mitchells Woodstock-Song hatte es schon thematisiert- viele der männlichen JuZ-Besucher und -Aktivisten entschiedene Anti-Militaristen. Sie organisierten Beratungen für diejenigen, die den Kriegsdienst mit der Waffe verweigern und Zivildienst ableisten wollten. Sie waren treibende Kräfte der entstehenden Friedensbewegung und organisierten lokale Mahnwachen, gewaltfreie Trainings und Blockade-Aktionen in Ramstein sowie Demonstrationen gegen die US-Giftgaslager im Pfälzer Wald. Sie beteiligten sich dann auch später an der Menschenkette-Aktion in Mutlangen und an der großen Friedensdemo im Bonner Hofgarten. 

Ebenso fanden sich einige, die sich in der entstehenden Anti-AKW-Bewegung, hier vor allem gegen das AKW Cattenom oder die radioaktiven Yellow-Cake-Abraumhalde zwischen Nohfelden und Birkenfeld, engagierten und dann später gegen die Wiederaufarbeitung in Wackersdorf, die Endlagerung in Gorleben und die Castor-Transporte. 

Der Joni Mitchell-Song „Big Yellow Taxi“ war es u.a., der Ideen für die entstehende Ökologie-Bewegung formulierte und im Open Haus-Musik-Programm zu hören war: 

„They paved paradise and put up a parking lot

With a pink hotel, a boutique, and a swingin′ hot spot

Don’t it always seem to go
That you don′t know what you’ve got ‚til it′s gone?
They paved paradise, put up a parking lot

They took all the trees, put ′em in a tree museum
And they charged the people a dollar and a half just to see ‚em

Hey farmer, farmer, put away the DDT now
Give me spots on my apples
But leave me the birds and the bees, please.“

Nicht selten hörte man auch die Parole der damaligen politischen Ökologie-Bewegung: Wehrt euch, leistet Widerstand, gegen all‘ den Scheißin diesem Land. Dies war damals in den 70iger Jahren trotz aller Unterschiedlichkeit der gemeinsame Nenner der Jugendlichen im Open Haus. 

Aus heutiger Perspektive, fünfzig Jahre später, hätte man es wissen können. Man hätte den erwähnten blinden Fleck – es wurde nirgendwo eine zukunftsfähige Vision formuliert, die über jugendliche Rebellion und Renitenz hinauswies – zur Kenntnis nehmen müssen. Es zeugt von jugendlicher Naivität anzunehmen, dass eine andere Gesellschaft möglich sei und durch bloße Verweigerung der bestehenden Verhältnisse herbeigeführt werden könne. 

Solche Ansichten wurden in den folgenden Jahren auch im JuZ Open Haus in der Homburger Birkensiedlung  abgelöst von dem Punk-Slogan der Sex Pistols No future, there’s no future, no future for you. 

(Selbst-)kritisch aus heutiger Perspektive bleibt anzumerken, dass wir damals nicht erkennen konnten und wohl auch nicht erkennen wollten, dass ein selbstverwaltetes Jugendzentrum lediglich ein temporär geduldeter Freiraum, nur eine „Spielwiese“, in einer von kulturellen und politischen Konsum- und Macht-Strukturen geprägten Realität, war. Wir bewegten uns als Jugendliche nicht wirklich in einer autonomen, selbstbestimmten Gegenkultur, sondern lediglich in einer eingebetteten Subkultur eines nach wie vor konsumistischen, konkurrenz- und markt-kapitalistisch strukturierten gesellschaftlichen Umfeld. 

Das war so, das ist so. Aber so kann es nicht bleiben.

Demo für einen Umzug vom Wohngebiet Birkensiedlung am Rande Homburgs ins Stadtzentrum