"Das Turnen im Haus ist verboten. Wer turnt, fliegt raus."
von Birgit Latz
Eindrücke aus dem Juz Neunkirchen 1976 - 1978 und ihre Folgen
Meine lustigste Erinnerung an das JUZ Neunkirchen: Im Treppenflur hing damals ein großes Plakat mit diesem Warnhinweis: „Das Turnen im Haus ist verboten. Wer turnt, fliegt raus.“. Ich sehe noch das Gesicht eines Freundes vor mir, der diesen Spruch fassungslos betrachtet und sich fragt, warum zur Hölle sowas Gesundes wie Turnen dort verboten ist. Er kannte den Ausdruck „turnen“ für „kiffen“ nicht…
Lustig war auch, in einer Vorstellung des Theaters „Überzwerg“ aus Saarbrücken, die „Was heißt hier Liebe?“ im JUZ gespielt haben, Jochen Senf zuzusehen, der in einem rosa Plüsch-Schlafanzug mit bunten Wattebäuschchen geschmückt, den „Orgi“, also den Orgasmus, verkörpert hat und selig grinsend durch die Zuschauer tanzte. Bleibende Bilder im Kopf…
Schön war das kleine Konzert von Thommie Bayer, der damals noch als Liedermacher durch die Jugendzentren und Kneipen tingelte, in der Teestube des JUZ, etwa 1977 oder -78, vor ca. 10 bis 15 Leuten. Er stand etwa einen Meter vor mir und den anderen und sang ein Lied, das ich heute noch nostalgisch gerne mag: „Mich juckts und ich bin schlecht gelaunt, ich möchte irgendwas verweigern…“. Das passte und gefiel mir gut.
Schön waren die JUZ-Feten im großen Jugendcafé mit Bands wie „Scrap Manu Factory“, bzw. „Lancelot“, da wurde getanzt und mitgegrölt, geknutscht und geherzt, was das Zeug hielt, mehr oder weniger entschlossen, mehr oder weniger gut. Leider endete für mich so ein Abend meist ziemlich früh, denn wer wie ich strenge Eltern hatte, musste auch immer den letzten Bus kriegen, wenn niemand aus dem Freundeskreis da war, der schon ein eigenes Auto hatte…
Schön war das JUZ-Kino, weil ich zwar Kino damals schon liebte, aber Filme jenseits des Dorfkino-Mainstream-Angebots noch nicht kannte. Bisher hatte ich alle Winnetou-Filme, Disney in allen Variationen, Bud Spencer/Terence Hill und Co. gesehen. Heimlich natürlich auch „Schulmädchen-Report“ oder solche Perlen wie „In der Lederhose wird gejodelt“ o.ä., denn der Sohn der Discobetreiberin war äußerst beliebt bei der Dorfjugend: Er wohnte neben dem Kino und der Wohnungszugang lag im selben Flur wie der Zugang zu den Kino-Balkonplätzen. Was ich nicht kannte, waren Filme wie z.B. „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ – auch nicht unbedingt die Krönung des Arthouse-Films, aber ein für die damalige Zeit recht guter Psycho-Thriller. Die Kinogruppe versuchte nach Kräften, gute Filme zu zeigen, die trotzdem nicht allzu abgehoben waren, um genug Leute zu interessieren.
Gesucht, gefunden, gelernt?
Ich habe mich damals um kein „Programm“ oder keine Zielsetzungen des JUZ gekümmert, ich wollte einfach dahin gehen und dort mitmachen, wo möglicherweise Menschen sind, die mich „verstehen“ würden: „Meinesgleichen“. Die „Katholische Jugend“ und die Dorfdisco waren nicht genug.
Als ca. 13jähriges Mädchen vom Dorf, das in der Kreisstadt aufs Gymnasium gehen konnte (dank der damaligen Bildungspolitik), und sich einigermaßen unverstanden und „nicht ganz richtig“ fühlte. Als junge Frau, die „nicht einverstanden“ war mit dem, was offenbar von ihr erwartet wurde: Allzeit freundlich, unauffällig, fügsam, leise, zurückhaltend, bescheiden zu sein, eben „einverstanden sein“, das konnte ich nicht gut. Nicht nachfragen, nicht zweifeln, nicht meckern, nicht „mehr“ wollen, als mir zugestanden wird, nicht infrage stellen von Dingen, die „üblich“ sind, eben „einverstanden sein“, das war mir einfach nicht möglich. Ich sollte nichts anderes wollen als das, was ich wollen darf. Die Ungerechtigkeiten, die ich gesehen habe (zwischen alt und jung, zwischen arm und reich, zwischen männlich und weiblich) sollte ich hinnehmen, mich nicht wehren dagegen. Keine Unzufriedenheit äußern, denn „dir geht’s doch gut!“. Ich musste nicht hungern, wie meine Kriegskinder-Eltern. „Eigentlich“ ging es mir doch so viel besser als ihnen: Ich hatte ein Dach überm Kopf, hatte doch „alle Möglichkeiten“, konnte lernen, mich plagte – trotz „einfacher Verhältnisse“ – kein schwerer materieller Mangel. Mich plagte anderes. Ich wollte mehr. Dieses „Mehr“ stieß auf Unverständnis. „Was willst du denn, du hast doch alles?“ – Nein, alles hatte ich nicht.
Als Kind war ich selber sehr ungerecht meinen Eltern gegenüber, habe mich im Gymnasium, neben den Arzt-, Juristen-, Geschäftsleute- und Lehrertöchtern, immer ein bisschen benachteiligt gefühlt: Die verbrachten die Ferien in anderen Ländern, nicht wie ich im Freibad oder allenfalls bei Verwandten in Süddeutschland. Die hatten ständig modische Klamotten, nicht wie ich die abgelegten Kleider wohlhabenderer Verwandten- und Bekanntenkinder. Die konnten mühelos Hochdeutsch reden, nicht wie ich „Hochdeutsch mit Striefen drein“. Die sind ins Theater oder ins Museum gegangen, ich konnte nur ins Kino gehen, weil ein Großonkel von mir Filmvorführer im Dorfkino war und mich kostenlos durchwinkte. Die hatten Geld für Schminkzeug und Nylons, mussten sich ihre Wimperntusche nicht ausleihen und keine weißen Kniestrümpfe tragen. All das habe ich meinen Eltern zum Vorwurf gemacht: „Ich brauche das alles, weil ich einfach auch so sein will wie die anderen und ihr wollt bloß nicht, dass ich dazugehöre!“. Dass ich auch mit modischem Pulli und eigener Wimperntusche nicht dazugehören würde zu denen, für die diese Dinge selbstverständlich bereits in ihrer Kindheit vorhanden und möglich waren, habe ich damals noch nicht erfasst.
Was ich tun konnte: Das nutzen, was das Dorf hergab. Mit Freundinnen plaudern, mir vor der Vorabendmesse an Samstagen eine Stunde „Disco“ der „Katholischen Jugend“ abtrotzen oder heimlich – statt ins Kino – in der Dorfdisco mit der besten Freundin zu tanzen, bis wir nach Hause mussten, weil der Film nebenan im Kino vorbei war… Fernsehen, vor allem Western-Serien und Tierserien wie „Daktari“, bloß weg von da, wo ich war. Weiter träumen von mehr. Und vor allem: Lesen. Ich las alles, „was nicht bei Drei auf den Bäumen war“, alles, an das ich rankommen konnte. Von den wunderlichen Andersen-Märchen über Disneys „Lustige Taschenbücher“ und „Hanni und Nanni“ oder andere Mädchen-Internatsfantasien bis zu Schmonzetten wie „Tapfere kleine Ulli“ und „Christa studiert Medizin“… So richtig wach wurde ich beim ersten Erwachsenenroman, den ich gelesen habe, bei „Papillon“ – der unschuldig im Gefängnis saß und sich mühselig, aber glorios befreien und flüchten konnte. Und bei meinem „Lebensbuch“, dem „Robinson Crusoe“. Dass das eine mittelschwere Kolonialistenschwarte war, habe ich erst viele Jahre später realisiert. Was mich fasziniert hat, war Robinsons Zeit auf der Insel: Die Fähigkeit, sich aus dem, was da war, ein Zuhause zu bauen, pragmatisch und einfallsreich, fantasievoll und beharrlich damit klarzukommen, was da war. Heute glaube ich, dass ich das auch gut kann und es unter anderem auch aus diesem Buch gelernt habe.
Ein paar Jahre später habe ich begonnen, zu kapieren, dass es nicht die materiellen Dinge sind, die mich von den meisten anderen Schulkameradinnen unterscheiden, sondern anderes, das nicht mit Geld auszugleichen wäre. Eine Art Fremdsein. Mich unter den meisten Jugendlichen meines Alters immer wieder „unpassend“ zu fühlen und das, was von mir offenbar erwartet wird, nicht erfüllen zu können. Ein unwilliges Gefühl: Ich will das auch gar nicht, was ihr von mir wollt, denn es ist nicht richtig!
Es war hauptsächlich dieses ständige „Nichteinverstandensein“ mit dem, wie es zugeht unter den Menschen, die beginnenden Zweifel an den Strukturen der Gesellschaft und der herrschenden Politik. Es waren Zweifel wie: Ist das alles richtig, gerecht, ist das wirklich in Ordnung, was ich sehe und erlebe? Warum sieht das niemand? Warum muss das so sein? Warum will das niemand ändern? Bin ich denn die Einzige weit und breit, die damit nicht einverstanden ist?
Also habe ich gehofft, es gäbe noch mehr Leute, die das nicht gut finden, wie es zugeht. Die auch wahrnehmen, dass etwas entschieden falsch läuft. Ungerecht. Nicht in Ordnung. Der Nachbarsjunge, in den ich verknallt war, war es nicht, auch wenn ich es mir sehr gewünscht hätte. Der wollte in erster Linie mit seinen Freunden saufen und Fußball spielen (für die anderen Dorfjungs war ich ebenfalls uninteressant, weil nicht hübsch und willfährig genug – zu „kompliziert“ halt). Die meisten Freund:innen waren es auch nicht, denn sie waren im Grunde mit vielen Dingen, die ich falsch und ungerecht fand, letztlich doch einverstanden, zum Beispiel damit, nach ihrem Aussehen beurteilt zu werden und sich mächtig anstrengen zu müssen, sich „lieb“ zu verhalten, damit niemand etwas an ihnen auszusetzen hatte. Die „Katholische Jugend“ der Kirchengemeinde war zwar besser als nix, aber auch viel zu einverstanden mit viel zu vielen Dingen, die ich nicht mochte, nicht erfüllen konnte oder nicht mitmachen wollte. Ich musste offenbar „raus“ aus diesen Zusammenhängen. Höchste Zeit.
Eine ebenfalls nicht ganz einverstandene Freundin, die ich endlich mit ca. 16 Jahren in der Schule gefunden hatte, hat mich dann gefragt, ob ich mitgehen will in den „Kunst-Arbeitskreis“ im JUZ Neunkirchen: „Wenn du mitgehst, würde ich auch mal hingehen…“. Ich wollte mitgehen. Und schon war ich im JUZ, etwa 1976. Dort habe ich weitergesucht und das ein oder andere sogar gefunden. Es gab viele schöne und auch weniger schöne Eindrücke – und einiges, was ich im JUZ gesehen und erlebt habe, hat den Grundstein gelegt für vieles, was ich im Lauf meines weiteren Lebens wiedererkannt und gelernt habe, was ich sowohl in mir als auch mit anderen weiterentwickeln konnte.
Der wichtige Einstieg ins JUZ war für mich der KAK (KunstArbeitsKreis). Es war schön, mit den (zeitweise bis zu 10) anderen Leuten im KAK einen kleinen Raum im Obergeschoss des JUZ-Hauses zusammen herzurichten, zu streichen, mit abgelegten oder Sperrmüll-Möbeln wohnlich zu machen und dort dann stundenlang über hochambitionierte, mehr oder weniger gute, aber mit viel Herzblut verfasste Pubertätslyrik zu diskutieren. Zur Gitarre selbstkomponierte, selbstgetextete Lieder zusammen zu hören und bekanntere Alternativ-Gassenhauer zusammen zu singen (ich sage nur: „There is a house in New Orleans“…). Oder zusammen zu malen und zu zeichnen und uns in unserem jugendlichen „Kunstwillen“ gegenseitig zu stützen. Dort hat meine Lust nachzudenken, zu schreiben und zu zeichnen viel Resonanz gefunden, das war ein wunderbares Gefühl, hat mir ein besseres Selbstbewusstsein verschafft, was meine eigenen Möglichkeiten betrifft – und mir nicht zuletzt die Entscheidung, nach dem Abi Germanistik und Kunst zu studieren, leichter gemacht. In dieser Zeit ist in Zusammenarbeit mit einigen JUZler:innen aus Homburg sogar ein Gedichtheft („Neue Bäume“) entstanden, zu dem ich auch etwas beitragen konnte.
Wir wurden natürlich nicht mit unserem KAK „alleingelassen“. Bald wurde uns nahegelegt, uns auch in den JUZ-Betrieb „einzubringen“. Ein bisschen „verdächtig“ waren wir schon: Eine „elitäre“ Gymnasiast:innen-Gruppe, die sich im Obergeschoss verschanzt hatte und sich offenbar nicht umgehend am Restbetrieb beteiligen mochte… Erst kam die weibliche Hälfte des Sozialarbeitsteams zu uns, versuchte mit uns ins Gespräch zu kommen, gab z.B. vor, lernen zu wollen, wie sie Zigaretten drehen könnte, die nicht wie Schlangen aussehen, die gerade ein Kaninchen verspeist haben. Nach und nach wurde sie deutlicher, versuchte uns für die Mitarbeit in der JUZ-Kneipe oder der Teestube zu gewinnen und appellierte an unseren Gemeinsinn: Wir könnten doch sicher mal „Malstunden“ für die Kinder aus der Nachbarschaft anbieten oder Plakate für die JUZ-Veranstaltungen gestalten. Einigen von uns war der Freiraum, den das JUZ uns bot, der eigene Raum und die Möglichkeit, uns an einem sicheren, kostenlosen Platz zu treffen und zusammen unseren Interessen nachzugehen, eigentlich genug. Mit dem Rest der Jugendlichen, die sich im JUZ engagierten, wären wir nicht so schnell bekannt- und warmgeworden, wenn wir nicht explizit von der Sozialarbeiterin dazu aufgefordert worden wären, aktiv auch im allgemeinen JUZ-Betrieb mitzumachen. Und spätestens, als die damalige Sozialpädagogik-Praktikantin öfter in den KAK kam, uns entschlossen die Makramee-Technik einbimste und darum bat, dass wir doch bitte schicke Schnurgardinen fürs Jugendcafé knüpfen sollten, hatten wir alle kapiert, dass das hier nix wird, wenn wir uns nicht „einbringen“. Dass also unser Freiraum doch nicht so ganz „kostenlos“ ist, sondern es auch unserer Teilnahme bedarf, wenn der JUZ-Betrieb gemeinschaftlich funktionieren bzw. weiter rundlaufen soll. Also haben sich einige von uns auch anderweitig beteiligt. Für mich waren das: (etwas widerwillig) Makramee-Gardinen und Hänge-Blumentopfhalter klöppeln, (schon ein bisschen lieber) Veranstaltungsplakate malen, aber vor allem (mit wachsender Begeisterung) immer wieder mal den Teestuben-Thekendienst übernehmen.
Schön war für mich die Teestube im JUZ, weil ich beim Thekendienst andere JUZler:innen kennenlernen konnte und alles Mögliche mitbekam, was ich zuvor noch nicht kannte. Neben den vielen interessanten Teesorten von Vanilletee über Jasmintee bis Earl Grey und Lapsang Souchong, die wir natürlich alle durchprobiert haben, gab es interessante Musik auf den ca. 50 LPs, die dort standen. Pink Floyd, Led Zeppelin, Zappa, Dylan, Elvis, wenn ich mich richtig erinnere – sicher aber auch Elster Silberflug, Liederjan, Zupfgeigenhansel, Klaus der Geiger… Damals lief kaum „progressive“ Musik im Radio, ebenso wenig „Folk-Musik“ und schon gar keine „politischen Liedermacher“. Gebräuchliche Tees bei uns zuhause waren Hagebutte, Malve, Kamille und Pfefferminz – bei Blähungen auch gern mal Fencheltee…
Die Teestube war ein Treffpunkt vieler verschiedener Leute, sie war Knotenpunkt der verschiedenen Gruppen und Brutstätte neuer Zusammenhänge und Aktionen. Manche Jugendliche hatten kein Geld für Kneipen oder Cafés und trafen sich deshalb – wie wir – im JUZ (damals gab es für Jugendliche allenfalls eine Eisdiele oder die ein oder andere Szenekneipe wie z.B. das „Töff“, oder Blaumach-Kneipen wie der „Krug“, die bereits mittags geöffnet hatten), manche hatten ansonsten wenig gleichgesinnte Sozialkontakte und fanden dort immer jemanden zum Reden, manche wollten einfach abhängen, ohne was konsumieren zu müssen, andere wollten ihre Ruhe haben vor der nervigen Familie. Andere JUZler:innen konnten dort nach ihren Gruppentreffen die anderen sehen und sich entweder von anstrengende Diskussionen erholen oder diese Diskussionen mit anderen außerhalb der Gruppe weiterführen. Wir konnten Hausaufgaben machen und für die Schule zusammen lernen. Wir konnten Leute kennenlernen, uns unsere Leben erzählen, uns gegenseitig trösten und bestärken oder heftig rumdiskutieren, Pärchen konnten ungestört von Eltern oder Geschwistern miteinander knutschen. Wir konnten uns kostenlos aufwärmen (wenn es im Park zu kalt oder das Schwimmbad schon zu war), in Ruhe bei einem Tee in der Ecke sitzen, ohne dass dauernd jemand was von uns wollte…
Schön war es, für die eigenen Teestuben-Thekendienste die Musik auflegen zu können. Alle, die das gemacht haben, hatten ihre eigenen Vorlieben und ihren bevorzugten Stil. Wenn ich Thekendienst hatte, saß häufig ein Pärchen auf dem Sofa, das über meine damalige Folk-Vorliebe meckerte und auf meine Frage, was ich stattdessen auflegen soll, immer wieder „Zappa!“ schrie. Ich wollte eigentlich nicht, weil mir Zappa beim Nebenbeihören viel zu „chaotisch“ klang. Die Pärchen-Frau klopfte neben sich aufs Sofa und sagte: „Jetzt legst du mal Zappa auf, setzt dich hier hin und hörst dir die Platte in Ruhe an, das ist nämlich gar nicht chaotisch, sondern richtig gut!“. Sie hat mir die wunderbar sarkastischen Texte erklärt und mich auf so manche musikalische Finesse hingewiesen, die mir bisher entgangen war. Und was soll ich sagen: Sie hatte Recht. Wir hatten im JUZ drei Zappa-Platten: „One Size Fits All“, „Overnite Sensation“ und „Bongo Fury“ – nach der Sitzung auf dem Pärchen-Sofa wurde ich Fan und die drei Platten, die ich damals dann rauf und runter gehört habe, sind heute noch meine Lieblingsplatten von Zappa.
Schön war es, interessante Leute kennenzulernen, z.B. Dr. Staudenmeier. Eine Art „Altfreak“, der mir damals tatsächlich wie ein Opa vorkam, aber wahrscheinlich viel jünger war, als ich heute bin. Er saß oft in der Teestube und unterhielt sich mit den anwesenden Leuten. Übers Wetter, die Politik, die Gesellschaft, den Zeitgeist, über Gott und die Welt. Er war Baha’i und erklärte mir an einem eher langweiligen Nachmittag seine Religionsgemeinschaft. Ich mochte seine Freundlichkeit und Höflichkeit, er war bescheiden und es lag ihm fern, irgendwen zu missionieren – eine angenehme Gesellschaft, wenn in der Teestube wenig los war. Überhaupt gab es einen „großen Zoo“ in der Teestube im JUZ: Die Mutter einer JUZlerin, die eine wunderbar große Klappe hatte und ihr ebenso großes Herz auf der Zunge trug – es war immer leicht, herauszufinden, ob sie jemanden mochte oder nicht. „Sponti-Rainer“, der verzückt und beseelt vom „Tunix-Kongress“ erzählte und der erste frühe undogmatische Linke bzw. „Autonome“ war, den ich kennengelernt habe. Den mageren Junkie, der sich im JUZ öfter mal aufwärmte und meistens stumm im Flur an der Wand lehnte, eher abschreckend in seiner isolierten Verstörtheit. Die Kiffer-Clique, die nach dem „Turnen im Park“ zum gemeinsamen Kichern in die Teestube kam, wenn es draußen zu kalt war oder geregnet hat. Die bleiern-ernsthaften KBWler:innen, die nicht müde wurden, uns den westlichen Kapitalismus in all seiner Schlechtigkeit zu erklären – und uns nebenbei hartnäckig dazu zu bewegen versuchten, uns in ihrer Gruppierung zu organisieren – in ihrer manchmal nervigen Orthodoxie ebenfalls eher abschreckend. Die „Mofa-Rocker“, eine Schrauber-Gruppe, die mit Vorliebe das „Jugendcafé“ (so hieß der große Veranstaltungsraum, er war geräumiger und weniger „alternativ-gemütlich“ als die Teestube, glich eher einer Kneipe) besetzt hielten und ständig Elvis-Platten hören wollten, allerdings Null Toleranz gegenüber dem Thekendienst-Zivi mit den üppig-langen blonden Locken walten ließen, als der seinen GuruGuru-„Elektrolurch“ auflegte – und ihn handgreiflich daran hindern wollten. Es gab immer wieder jemanden, der oder die offenbar „in die Kasse gegriffen“ hat. Es gab den unermüdlich-emsigen Redakteur der JUZ-Zeitung „Wilhelmsträßchen“, der ständig nach Textbeiträgen, Bildern und Artikeln lechzte. Den väterlichen Sozialarbeiter, der mir öfter mal mit „Toleranz gegenüber den Arbeiterjugendlichen“ (wie z.B. den Mofa-Rockern) kam, aber nichts von den Schwierigkeiten hören wollte, die ich als „Arbeiterkind“ mit den Mitschülerinnen auf dem Gymnasium hatte, denn wir Gymnasiast:innen waren doch wohl vorwiegend elitär und bürgerlich-individualistisch gestrickt, oder etwa nicht… ?!
Die „Polit-Fraktion“ unter den JUZ-Aktiven konnte ich kennenlernen bei den Vollversammlungen, die regelmäßig stattfanden. Es ging um Organisatorisches, das JUZ betreffend, aber auch um Themen wie den Unabhängigkeitskampf in Zimbabwe oder die Situation der (Hütten-)Arbeiter (von denen meiner Wahrnehmung nach ein eher romantisch-verklärendes Bild vorherrschte, mein Opa war Hüttenarbeiter und ein ziemlich reaktionärer Zeitgenosse…), manchmal auch um die Vorbereitung von Demoteilnahmen gegen den Bau des Atomkraftwerks Cattenom. Es gab hitzige Grundsatzdebatten und Meinungsverschiedenheiten, da es verschiedene politische „Strömungen“ gab, die sich nicht immer einigen konnten, wer zum aktuellen Diskussionsgegenstand die „richtige“ Einstellung hatte. Die Vollversammlungen waren bisweilen anstrengend, aber immer notwendig, um geplante Aktivitäten im JUZ zu organisieren. Letzten Endes war die Polit-Szene unter den Jugendlichen in Neunkirchen zu klein, um sich endgültig zu zerstreiten, also wurde sich notdürftig geeinigt und nachdem die Veranstaltungen und Vorhaben beschlossen und die Aufgaben einigermaßen „gerecht“ (natürlich unter den meist gleichen Aktiven) aufgeteilt waren, konnte dann doch immer mal wieder das gemeinsame Abendbier zelebriert werden. Die völlig gefrusteten Teilnehmer:innen sind nach Hause oder in andere Kneipen abgewandert (um sich über die zu laschen JUZler:innen aufzuregen), die mittelstark Gefrusteten haben sich noch eine Weile beim Bier beharkt über die richtigen und falschen Wege – und die Zufriedenen haben erleichtert weitere Pläne geschmiedet…
Geschlechterpolitisch und beziehungstechnisch gab es ebenfalls viele Varianten. In einer Frauengruppe, die sich gebildet hatte, wurde vieles thematisiert, das anderswo (auch in den gemischten Zusammenhängen im JUZ) keine ernstzunehmende Resonanz fand. Ich habe dort nicht nur große Zuneigung und nachhaltig anregenden politischen Austausch unter uns Frauen erlebt, sondern auch z.B. blaue Flecken gesehen bei einzelnen Frauen, deren Partner wir als laute linke Wortführer kannten, von denen wir aber nicht vermutet hatten, dass sie im Streit mit ihren Freundinnen tätlich werden würden (Das hat mich übrigens animiert, Alice Schwarzers „Der kleine Unterschied“ und Simone de Beauvoirs „Das andere Geschlecht“ zu lesen und entschieden wach und letztlich zur Feministin gemacht). Es gab die „Honigsammler“ unter den Männern, die sich jede Woche bis jeden Monat eine andere der JUZ-Frauen vornahmen, um ihnen ihr Leid zu klagen in der Hoffnung, endlich eine zu finden, die sie „retten“ kann und die „nur für sie da ist“. Es gab die coolen „Polit-Macker“, für die die meisten JUZ-Frauen mit ihren ständigen und durchaus gemischten „Gefühlen“ eher anstrengend, eher wandelnde „Nebenwidersprüche“ waren – und die straighten Polit-Frauen eben keine Frauen „in dem Sinn“, weil sie sich bemüht haben, den Wortführern keine „Beziehungs-Arbeit“ zu machen. Es gab Frauen, die wegen den coolen Polit-Männern kamen oder andere, die sich wegen den „softeren“ und offeneren Männern im Haus aufhielten. In der Hoffnung, vielleicht einen zu finden, der sie entweder nicht unterbuttern will oder sie nicht einzig als Schmuckstück bzw. als Mutterersatz braucht – vielleicht auch, um eine erfüllende „soziale Aufgabe“ zu finden oder eine angesehene „Polit-Trophäe“ mit nach Hause nehmen zu können. Es gab aber auch Männer mit Gefühlen, die sie von Zeit zu Zeit zu äußern trauten und Frauen, die ganz selbstverständlich in „politischen“ Diskussionen mittun konnten, ohne sich anbiedern zu wollen. Insgesamt gaben sich die Leute jedweden Geschlechts im großen JUZ-Kontakthof nichts. Männer und Frauen, die sich wirklich jederzeit offen zu äußern und angreifbar zu zeigen trauten? Die nie Angst hatten vor den Folgen, sich auch mit den weniger schönen Strukturen und Ausdrucksformen der JUZ-Szene „nicht einverstanden“ zu zeigen? Um die zu zählen, reichte wahrscheinlich eine Hand.
Ich hatte Leute gesucht, die auch „nicht einverstanden“ waren. Ich habe Freundinnen und Freunde gesucht, Resonanz, Gemeinschaft. Eine Handvoll langjährige Freund:innen habe ich auch im JUZ gefunden. Sogar meine „erste große Liebe“, was für mich sehr schön war und mir Mut und Hoffnung machte. Im JUZ lag der Anfang meiner Politisierung, nicht nur als radikale Feministin, ich habe vieles von dem, was ich dort erlebt und gelernt habe, im Studium und im Berufsleben wiedererkannt, weiterentwickeln und gut brauchen können. Das ist sehr viel.
Wir haben wahrscheinlich alle gesucht, was auch immer. Wir glaubten ab und zu, gefunden zu haben und sind weitergegangen, haben gelernt, dass nicht alles, was wir uns wünschen, mit unseren begrenzten Mitteln zu realisieren ist. Unsere Wünsche haben sich leider zu oft an der Realität abgeschliffen und wir konnten bisweilen auch feststellen, dass wir offenbar doch noch nicht so präzise wussten, was wir eigentlich genau suchen. Wie dem auch sei: Auf alle Fälle haben wir viele und wichtige Dinge gelernt.
Was hat mich die Zeit im JUZ gelehrt?
Was wurde grundgelegt für mein weiteres Leben? – Was für eine Art von Politisierung habe ich dort erfahren? – Was habe ich gesucht und was gefunden? – Was habe ich im JUZ erlebt und in ersten Ansätzen für den weiteren Umgang mit anderen und der „Welt, mit der ich nicht einverstanden bin“ gelernt?
Andere Menschen kennenlernen und andere Lebenszusammenhänge erfahren.
Mir einen offenen Raum zu eigen machen.
Selber Dinge mitgestalten nach meinen Vorstellungen.
Meine Vorstellungen mit denen anderer vergleichen, abgleichen, verwerfen oder vorziehen.
Leute kennenlernen, denen es „genauso geht“, die aber eigentlich ganz anders sind.
Utopien entwickeln und am Versuch der Umsetzung scheitern.
Nicht einverstanden sein und erfahren, dass es auch in der „Gegenwelt“ so sein kann.
Zweifel zulassen und frei äußern.
Mich nicht einordnen (lassen), auch wenn es schwerfällt.
Gefragt werden und fragen, mir meine Neugier erhalten und entwickeln.
Uneinigkeit nicht opportunistisch vermeiden, sondern aushalten und austragen.
Mich nicht bei der ersten Enttäuschung abwenden und gehen, sondern beharrlich sein und bleiben.
Realistischer werden und Träume nicht nur entwickeln, sondern auch infrage stellen können.
Entwicklungen verfolgen und ihnen gefestigter begegnen, wenn ich sie falsch finde.
Eigene Wünsche artikulieren und zur Kenntnis nehmen, dass sie sich nicht erfüllen lassen.
Dass ich manchmal aber auch selber dazu beitragen kann, sie zu verwirklichen.
Das Schöne nicht nur erleben, sondern auch wertschätzen können.
Das altbekannte Schlechte wieder erleben, und es auch hier nicht in Kauf nehmen.
Auch unter „Meinesgleichen“ den Mut zum Widerspruch haben.
Weiterhin Fragen zu stellen, die nicht vorgesehen zu sein scheinen.
Bedingungen nicht ohne Weiteres erfüllen können oder wollen.
Eigene Stärken kennenlernen, eigene „Schwachheiten“ akzeptieren können.
Meine Verantwortung für mich selbst erfahren und die Verantwortung anderer erkennen.
Eigene Schwächen nicht verbergen, nur um „genehm“ zu sein.
Die Kraft erfahren, die aus Trotz, Wut und Widerstand erwächst.
Die Kraft erfahren, die aus Freundlichkeit, Gelassenheit und Liebe erwächst.
Die Kraft erfahren, die aus Verbundenheit, Verschworenheit und Verspieltheit erwächst.
Lebensfreude erfahren, die aus Kommunikation und Resonanz auf möglichst vielen Ebenen erwächst.
Angst wie Mut und „Widerspenstigkeit“ unbefangener äußern können.
Offen werden für Neues, das mir andere zeigen und es selbständig weiterverfolgen.
Lernen, mit Ablehnung und Unverständnis anderer (und anderen gegenüber) gelassener umzugehen.
Sehen, dass mich auch Dinge ausmachen, die anderen missfallen – und daran festhalten können.
Eigene Fähigkeiten und Unfähigkeiten anderen gegenüber klarer zu sehen.
Weniger Angst vor anderen haben und anderen ihre mögliche Angst vor mir nehmen wollen.
Erfahren, dass es mir nicht nur gefällt, etwas anzufangen, sondern auch zuzusehen, wie es wächst.
Andere finden, denen es ebenso viel Spaß macht, zu denken, zu fühlen und zu spüren.
Andere finden, die ebenso wenig einverstanden sind und „unpassend“ für die Welt, wie sie ist.
Andere finden, die stetig sind und verlässlich in ihrer Verbundenheit.
Andere finden, die Zweifel kennen und in der Lage sind, sie zuzulassen.
Andere finden, die ich in meinem Leben behalten will und die mich in ihrem Leben behalten wollen.
Freundlich und gnädig sein mit den „Untiefen“ anderer – und auch mit den eigenen.
Schätzen, wie schön, hilfreich und wichtig Leichtigkeit, Spaß und Liebe sein können.
Mich hüten vor allzu großem Ernst und allzu bleierner Schwere.
Mich nicht unterschätzen, mich aber auch nicht allzu wichtig nehmen für den Lauf der Dinge.
Geschwisterlicher fühlen und handeln.
Mich nicht zufriedengeben, aufmerksam bleiben und weiter durchschauen wollen, was mich umgibt.
Meine Sehnsucht nach Einfachheit und Leichtigkeit im Leben nicht verleugnen.
Herkunft, Status, Zukunft und Ziele thematisieren, analysieren und infrage stellen.
Zusammenhänge erkennen und in ihrer Bedeutung für meine Lebenswirklichkeit einschätzen.
Innerliche und äußerliche Widersprüche erkennen und aushalten, statt sie zu verleugnen.
Mir die Fähigkeit zu Freude, Spiel, Lust und Genuss nicht trüben lassen durch den „Ernst des Lebens“.
Zutrauen fassen in mich selbst und Zuversicht behalten.
Spaß am Leben und am Lebendigfühlen haben können.
Zärtlichkeit, Verletzlichkeit und Verletztheit verspüren und erspüren können.
Die Neugier auf andere und den Mut für anderes nicht verlieren.
Nicht vergessen, dass „wir“ – als „die Guten“ – häufig in der Minderheit sind.
Birgit Latz