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Verband saarländischer Jugendzentren in Selbstverwaltung e.V.

Wie ein Volksschüler politisch wurde

„I can`t get no Satisfaction“, von den Rolling Stones kam als Weckruf aus dem neuen Recorder der Schwester eines Schulfreunds. An der Wand ikonische Bravo Fotos: Stones, Beatles, Byrds und Starschnitt Bob Dylan! Eine Botschaft von einem anderen Stern an einen 10Jährigen unter einer konservativen Dunstglocke anno 1966? Hallo Twen auf der Europawelle Saar und der Beat Club im Ersten Programm verdichteten das Interesse an Popmusik, an langen Haaren und den angesagten Klamotten.

Mit Jeans, Parka und Fransenstiefeln ging es am 6. Dezember 1970, mit 14, alleine zu Deep Purple in die Saarlandhalle. Zusammen mit Cousin Johann wurden dann alle erdenklichen Konzerte und Festivals im Südwesten bereist. Auch das 1972 im Anbau des Theaters am Ring eröffnete Jugendzentrum mit seiner, damals noch ungewohnten Sperrmüll-Sofa Landschaft, wurde gerne besucht. Auf dem Folk-Festival in Ingelheim 1974 wurden erstmals deutsche Texte mit politischem Hintergrund richtig wahrgenommen. Zeitgleich wurde die Kneipe „Humpen“ in Saarlouis das Wohnzimmer des sich erweiternden Freundeskreis. Die dort verkehrende Szene war bunt gemischt: SchülerInnen, Lehrlinge, Provinzhippies und angehende LokalkünstlerInnen bildeten eine wilde Mixtur, die sich in der Mitte der 70er einer oft selbsterkämpften Freiheit erfreuen konnte. Zu Hause galt der Wahlspruch: „Du kannst machen, was du willst, wenn du morgen früh pünktlich zur Arbeit auf dem Acker stehst“.

Ein Wort zu Arbeit, Acker und Bildung: Nach einem guten ersten Schuljahr gab es Turbulenzen in der zweiten und dritten Klasse. Denn hier bevölkerten zeitweilig über 60 SchülerInnen das Klassenzimmer, ein 72-jähriger, allmorgendlich mit seiner Geige aufspielender, tief religiöser Lehrer, war eher Verwalter als Pädagoge. Erst ab Klasse 5 hatte ich das Glück gute LehrerInnen zu erwischen, die mir als Schüler des letzten Jahrgangs der Volksschule eine solide Grundbildung vom Dreisatz über Absolutismus, Struktur des Regenwaldes bis zur Judenbuche vermittelten. Dann gab es den vorgezeichneten Weg: „Du übernimmst den Betrieb“. In der Berufsschule wurden die Gemüsegärtner zu dieser Zeit als Exoten zu den Landwirten (es gab nur Männer) gesteckt, was die Qualität der Ausbildung nicht unbedingt förderte und zu jeder Menge „Freistunden“ einlud. Fachschule und Abschlussprüfung waren dann wieder von besserer Pädagogik beseelt, wenn man von den Kämpfen der wenigen „Langhaarigen“ mit dem von nationalsozialistischem Gedankengut durchdrungenen Direktor absieht.                        

Vom Humpen ins Juz Dillingen

Im Frühjahr 1976 erschienen in unserer Basis „Humpen“ eine Gruppe von jungen Frauen, die im 1974 eröffneten Jugendzentrum Dillingen aktiv war. Diese Fügung, die übrigens bis heute ihre Spuren hinterlassen hat (meine Frau), gab den entscheidenden Impuls, mal nachzusehen, was im bisher völlig ignorierten Dillingen abgeht. Die für die damalige Zeit doch recht emanzipierten Powerfrauen entlockten uns eine nicht vermutete Dynamik, was Besuchshäufigkeit und Heimfahrdienste anbelangte. Auch was Feminismus bedeutet, wurde uns schon mal klargemacht. Im Dillinger Jugendzentrum war im Sommer 1976 die Gründergeneration fast völlig verschwunden. Dies erzeugte einen fast grenzenlosen Freiraum, in dem es außer der Veranstaltungs- und Film-AG keine ordnenden Strukturen gab. Abgesehen von der ewigen Kassenwartin Elke, die wahrscheinlich 18 Jahre lang das schmale Geld des Juz mit bewundernswerter Ausdauer verwaltet hat.

Es versammelten sich alle, die in Dillingen und Umgebung (Primstal, Niedtal) keine Heimstatt hatten: Junge Menschen ohne Arbeit und Abschluss, Kleinkriminelle jeder Couleur, die lokale Drogenszene, K-Gruppen jeder Richtung, Hitlerverehrer im HJ-Outfit, der Sohn eines benachbarten italienischen Schneiders, der als Anhänger der italienischen „Lotta Continua“ unter dem Motto: „Kampf immer“ wie wild agitierte, und mit zwei italienischen Kampfgenossen die Wand des Jugendzentrums mit Parolen der Roten Brigaden verzieren wollte, traumatisierte Weltkriegsveteranen, eine 60jährige Tochter, die den Absprung bei ihren 95-jährigen Eltern nicht geschafft hatte, Lokalpoeten und schwere Trinker, und dazwischen jede Menge Schülerinnen und Schüler mit all ihren großen und kleinen Problemen (was auch schon mal den Weg zum Dillinger Krankenhaus zwecks Auspumpen von Mägen erforderte). Da das Mobiliar des Juz größtenteils dem örtlichen Sperrmüll entsprang, freuten wir uns, als uns von einem Besucher ein Ford-Transit Bus geschenkt wurde. Mit diesem Gefährt konnten wir auch den ergiebigen Saarlouiser Sperrmüll abgrasen. Leider erfuhren wir ein paar Wochen später, dass die gute Tat einem schnöden Autodiebstahl entsprang und die Karosse mit offensichtlich gestohlenen Nummernschildern bestückt war. So musste das lieb gewonnene Stück dezent auf einem Schrottplatz seine letzte Ruhe finden. Bei meinem ersten Thekendienst anlässlich eines Folkkonzerts im November 1976 wurde mir vor Augen geführt, welche Bedeutung die Formel „Anpassen an die Situation“ bedeutet. Es war mitten in der Woche, als ich um 22 Uhr die Theke schließen wollte, und zwei, bis dahin für mich noch unbekannte Gestalten, plötzlich in Aktion traten. Der eine, der aus heutiger Sicht eine frappierende Ähnlichkeit mit Quentin Tarantino aufwies, schoss unvermittelt mit einem Western-Revolver in die Decke, woraufhin sein Kumpel, der im Aussehen und Auftreten an einen heruntergekommenen Kleinkriminellen aus einem amerikanischen B-Movie erinnerte, erklärte: „Geschlossen wird erst, wenn wir den Saal verlassen“. So blieb mir nichts anderes übrig, als im Sinne der Deeskalation mehr oder weniger vergnügt den Ausschank weiter zu betreiben.

Zündender Moment Brokdorf Demo

Im Herbst 1976 gab es dann einen zündenden Moment, als Stefan Peter im Kontext der ersten Brokdorf-Demo einen kleinen Infostand im Juz aufbaute, um die Besucher mit den Risiken der Atomkraft zu konfrontieren. Im Laufe des Winters 76/77 traf sich sonntagmittags ein Kreis von Juzlern, der in loser Runde die aufkommenden Themen wie: Umweltschutz/Atomkraft, herrschaftsfreies Leben, neue Wohnmodelle, Kriegsdienstverweigerung und sonst noch alles Mögliche diskutierte. Um Bewusstseinserweiterung und Lebenserfahrung zu formen, wurden Exkursionen nach Paris und Amsterdam unternommen. Auch die Besuche im Buchladen in Saarbrücken, die mit dem Erwerb eines kleinen schwarzen Sterns und jeder Menge mehr oder weniger verständlicher linker Literatur einhergingen, erweiterten das Weltbild. Besondere Erlebnisse waren für mich verbale Auseinandersetzungen mit einigen Herren der marxistischen Schülergruppe, die vom siebten Himmel der Theorie milde auf den armen Volksschüler herabblickten, bei der notwendigen Reinigung der Toiletten aber Besen und Schrubber nicht unterscheiden konnten oder unter arbeitsbefreienden Allergien litten. Den beschränkten Blickwinkel einiger Zeitgenossen konnte, wer wollte, auch bei den Info-Veranstaltungen aller „relevanten linken Gruppierungen“ im Juz erkennen. Wenn z.B. die DKP vehement gegen bundesrepublikanische AKW wetterte, die volkseigenen im Osten aber von jeglicher Kritik ausnehmen wollte, oder die Rede- und Argumentationsduelle verschiedener K-Gruppen, die aus heutiger Sicht eher in die Abteilung Realsatire einzuordnen wären.

Nichtsdestotrotz sollte das Jahr 1977 mit gestärkter Organisationsstruktur vielfältige Aktionen hervorbringen, lag doch 1978 vor uns. 10 Jahre Mai 68, die Revolution sollte in die Provinz kommen. Es wurde eine Anti-AKW Gruppe gegründet, eine KDV-Gruppe, die in der Dillinger Fußgängerzone für einiges Aufsehen sorgte, und von einigen „alten Kämpfern“ mit den Worten quittiert wurde: „Da Adolf hät Euch all vergast“. Noch spektakulärer verlief, nach der Fahrpreiserhöhung der Kreisverkehrsbetriebe, die Aktion „Schüler, Rentner kostenlos sonst machen wir die Hölle los“ im April 77. Nach ausgiebiger Diskussion im Juz wurde eine spontane Aktion für den nächsten Tag am Saarlouiser Busbahnhof geplant. Eine Gruppe von ca. 20 „Spontis“ besetzte überfallartig eine der beiden Zufahrten, was Stau und Chaos bei den einfahrenden Bussen auslöste. Mit Hilfe von Megaphon, lauten Rufen „Solidarisieren“, „Schüler Rentner kostenlos –  sonst machen wir die Hölle los“, gelang es, die Anzahl der Straßenblockierer zu verdoppeln. Die Aufforderung des Fahrdienstleiters und der 3 herbeigeeilten Polizisten, sofort die Straße zu räumen, wurde ignoriert, was die Herrschaften hilflos mit den Worten quittierten: „Dat hat et jo noch nie gen, dat geht doch net“. Nach einer halben Stunde beendeten wir die Aktion in Anbetracht der aus Saarbrücken alarmierten Bereitschaftspolizei und verzogen uns ins Dillinger Juz, wo der Euphorie über die gelungene Aktion freien Lauf gelassen wurde. Die Fahrpreise wurden natürlich erhöht, aber unser Mut solche Aktionsformen zu wählen war entfacht und sollte in Zukunft noch oft gefordert sein. Im Juz wurde mit Hilfe von Dr. Rudi Peter und der AWO eine ZIVI-Stelle geschaffen, was in Verbindung mit regelmäßigen Treffen aller Arbeitsgruppen für einen deutlichen Aufschwung aller Aktivitäten sorgte. Neben dem Kampf gegen die Atomkraft war vor allem die Film AG meine Leidenschaft. Der ebenfalls von Dr. Peter indizierte Bericht des ZDF-Jugendmagazins „Direkt“ im Sommer 1978 sorgte für noch stärkeren Zulauf und auch für mehr Beachtung seitens der Lokalpolitik.

Prägende Zivi-Zeit im Juz Dillingen

Mittlerweile in einer WG wohnend, war es mir im Oktober 78 vergönnt, als Nachfolger von Volker Fontaine, meinen Zivildienst im Juz abzuleisten. Mein direkter Vorgesetzter war Gerhard Ziegler, der Gründer der Frühförderstelle der AWO. An meinem ersten Arbeitstag gab er mir seine Telefonnummer mit den Worten: „Wenn es Probleme gibt, melde Dich“. Wir sahen uns nach über einem Jahr wieder, und ich konnte versichern, dass es keine „Probleme“ gegeben hatte. Ganz im Gegenteil, das Juz hatte weit über 100 MitgliederInnen, wir waren an vielen Aktionen und Demos beteiligt. In diese Zeit grenzenloser Freiheit und Kreativität fiel auch, wieder unter maßgeblicher Beteiligung von Dr. Peter, die Gründung des Vereins zur Förderung alternativer Lebensformen, aus dem die Zukunftswerkstatt Saar hervorgegangen ist. Hier wurde der Versuch unternommen, alle Themen, die in den Jahren vorher nur lose diskutiert wurden, in konkrete Formen für die Zukunft zu gießen. In diesem Verein durfte ich mich mit fachlicher Unterstützung des Oppener Lehrers Rainer Anton mit dem ökologischen Gemüsebau vertraut machen. So legten wir im Frühjahr 79 in Saarlouis-Beaumarais ein 600 qm großes Versuchsfeld an. Die Ausflüge der Juzler mit ihrem ZDL zur Feldpflege waren eine gerne angenommene Abwechslung im Juz-Alltag und endeten nicht selten feuchtfröhlich. Die Ernteprodukte versorgten mehrere WGs, einen Lehrer, und ab und zu den Naturkostladen „Mutter Erde“, der damals in der Mainzer Straße beheimatet war.

Dieses ÖKO-Feld hat mein ganzes Berufsleben genauso geprägt wie der Input der frühen Zukunftswerkstatt mit ihrem universellen Mentor Dr. Rudi Peter. Ohne die Erfahrungen und Begegnungen im Dillinger JUZ wäre mein Leben sicher anders verlaufen.

Juz-Crew mit Speed