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Verband saarländischer Jugendzentren in Selbstverwaltung e.V.

Was das JUZ Neunkirchen aus mir machte

von Tobi Grosz

Eine Lederjacke habe ich nie besessen. Meine Haare waren nie bunt gefärbt, verwegen abrasiert oder zum so genannten Mohawk hochgestellt. Für Außenstehende, Ahnungslose und orthodoxe Punks muss ich im harten Alter von 15 Jahren wie ein langhaariger Parka-Hippie ausgesehen haben, der mit No-Name-Chucks, RAMONES-Bagdes und seiner Gymnasiast*innen-Clique seine damals noch üppig vorhandene Freizeit Radler trinkend im Neunkircher Wagwiesental verbrachte. Immer im Wechsel grölten wir zusammen Songs von TOCOTRONIC und WIZO, die unsere innere Zerrissenheit zwischen subkulturellem Wollen („Teil einer Jugendbewegung sein“) und gesellschaftlichem
Sein („leider noch zu klein, um bereits bei euch dabei zu sein“) zum Ausdruck brachten. Dabei pöbelten wir mit jugendlichem Enthusiasmus auch gerne mal die verkleideten Besucher:innen des örtlichen Mittelaltermarktes an („Kuckt mal, ein Idiot!“), entdeckten unsere Sexualität und bewältigten mehr oder wenige stillos die Pubertät. So ließ sich 2004 ein lauer Frühsommer in der hoffnungslos katholischen Arbeiterstadt schon recht sinnstiftend verbringen, doch irgendwas fehlte uns noch.

Die Stadt Neunkirchen hatte sellemols bereits in ihrem seit Jahren anhaltenden und schier unaufhaltsamen Prozess des ökonomischen und kulturellen Zerfalls Fahrt aufgenommen. Wir wussten, dass es um unsere körperliche und geistige Unversehrtheit besser bestellt war, wenn wir in Neunkirchen nirgendwo hingingen. Für Kneipen zu jung, für’s Skaten zu tollpatschig, für’s Bandgründen zu faul, von Messdienern, Jusos oder Hobbys wie Voltigieren, Pokemon oder Counterstrike schlichtweg angewidert. Immer wieder gab es im öffentlichen Raum Ärger mit den verschiedensten Gruppen feindlicher Menschen – von denen Neonazis für uns die mit Abstand bedrohlichste war. Unser Wissen über sie hielt sich mit 15 Jahren noch in Grenzen – aber ungute Erfahrungen mit kantigen Männern in BÖHSE ONKELZ- oder LONSDALE-Shirts, die uns wenig liebevoll „dreckige Scheißzecken“ nannten und mit ihren Fäusten wedelten, reichten für die Entwicklung eines stabilen antifaschistischen Standpunkts in jungen Jahren bereits aus.

So saßen wir zumeist mit sechs bis acht Freund:innen nach der Schule auf unserem Hügel im letzten Abendsonnenschein und fristeten unserer Jugendtage. Von Zeit zu Zeit besuchte uns eine ältere Bekannte mit Auto, frischem Führerschein und Eindruck schindendem „Gegen Nazis“-Shirt Manchmal spendierte sie uns hoffnungslos Minderjährigen einen Sixpack Radler, jenes verheißungsvolle Getränk minderjähriger Rebellion, das uns der örtliche Supermarkt noch nicht aushändigen wollte (#Jugendschutzgesetz). Nach nur wenigen Schlucken hatte die Bekannte bereits unser vollstes Vertrauen gewonnen und berichtete uns von einem neuen mysteriösen Ort nur eine Viertelstunde Fußmarsch entfernt, den sie zur Zeit renovierte. Er nannte sich „JUZ“ und gehörte laut der Bekannten – obwohl wir noch nie von ihm gehört, geschweige denn einen Fuß hinein gesetzt haben – bereits irgendwie uns. Stark verunsichert, ob das nun eines dieser zwielichtigen Lockangebote für Jugendliche war, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt hatten und die uns in Neunkirchen auch sehr viel wahrscheinlicher erschienen als das atemberaubende Versprechen von Freiraum und Selbstverwaltung, wagten sich mein bester Freund und ich an einem besonders langweilen Nachmittag zu Fuß in die Karl-Schneider-Straße 18. Direkt am ganz und gar nicht malerischen Ufer der Blies, in den ehemaligen Räumlichkeiten der Landeszentralbank – einem Relikt relevanterer Zeiten der Stadt – erwartete uns ein riesiger Raum mit blitzeblank  glänzenden Fliesen und akkurat gruppierten Bistrotischen. Aus einem CD-Spieler in der Ecke lief merkwürdige Rockmusik mit viel zu vielen Akkorden. Außer uns waren nur ein paar smart wirkende, aber leicht abgewirtschaftete junge Erwachsene an diesem seltsamen Ort – es war mein erster Kontakt zu Studierenden der Sozialen Arbeit. Ein besonders zotteliger Typ mit schwarzem Halstuch und beigem Kapuzenpullover begrüßte uns und bat uns im Stile eines Kellners an einen der Bistrotische in der Mitte dieses großen Raums. Auch er erklärte uns die noch immer sehr unglaubwürdige Sachlage: „Das hier ist ein JUZ, das gehört jetzt euch.“ Wir tranken eine Cola, schauten uns irritiert um und wussten nicht so recht, was wir mit unserem unverhofften Immobilienbesitz nun anfangen sollen. Nach kurzem Getuschel wagten wir mutig den ersten Schritt: die schreckliche 90s-Indie-Grunge-Alternative-CD dieser geschmacklosen Studierenden musste umgehend gegen eine der WOHLSTANDSKINDER ausgetauscht werden. Kein anderer Bandname hätte unser behütetes Mittelschichts-Punker-Dasein schließlich besser erfassen können. Wir labten uns an der Cola und lauschten genüsslich dem Pop-Punk-Sound, mit dem die stirnrunzelnden älteren Typen offenbar nur wenig anfangen konnten. Der zottelige Student bemerkte unsere wachsende Verunsicherung und empfahl uns schulterklopfend nächste Woche wiederzukommen – zu einem „echten“ Punkkonzert

Allez hopp dann! Das ließen wir uns natürlich nicht nehmen – wie ständen wir auch vor den Studierenden da? An besagtem Abend kreuzten wir zu zweit zum Konzert der uns bis dato völlig unbekannten Bands PASCOW und DUESENJAEGER auf, die laut Flugblatt aus den ebenso unbekannten Orten Gimbweiler und Osnabrück angereist waren. Die spießigen Bistrotische der Vorwoche waren verschwunden und die Atmosphäre im Raum vorfreudig angespannt. Wir spürten, es lag etwas in der leicht verrauchten Luft. In der hinteren Ecke machte sich eine Band auf einer sogenannten „Bühne“ – man könnte auch sagen, einem Stapel Europaletten – mit ein paar klirrenden Bierflaschen für ihren Aufritt locker. Alle der circa 15 zahlenden Gästen des Abends platzierten sich beim ersten Akkord von PASCOW in der ersten (und einzigen) Reihe und brüllten jede Silbe der Songs mit, die Zeigefinger demonstrativ in die Luft gestreckt. In der letzten Reihe mit ein paar Metern Sicherheitsabstand und offenen Mündern standen wir. Das war etwas völlig anderes als das, was wir bisher für Punk hielten. Viel grober, roher, kryptischer und irgendwie provinzieller. Um nicht zu sagen: saarländischer. Der Funke war endgültig übergesprungen – wir kauften alle ihre CDs (zwei) und lernten so schnell wie möglich die Songtexte auswendig, diskutierten und spekulierten über deren tieferen Sinn, der sich mir zum Teil bis heute nicht erschließt, aber dennoch seine Wirkung nie verfehlte („Der Moment der Ballabgabe / ob nun wirklich oder nicht / eine Antwort ohne Frage / doch ich frag dich nicht!“). Obwohl wir DUESENJAEGER, die zweite Band und den Headliner des Abends leider verpassten, da der letzte Bus nach Hause in die behütete Vorortsiedlung viel zu früh fuhr, zogen wir selig berauscht von dannen in der Gewissheit, dass sich unsere  Wege nochmal kreuzen sollten.

Von diesem Tag an war uns klar, dass dieses JUZ alles zu bieten hatte, was wir vom Leben wollten. Mit jedem unserer immer häufiger werdenden Besuche veränderte sich  irgendwie die Einrichtung, ein Tischkicker hielt Einzug, die Wände wurden bunt und der Ort bot ständig neue Möglichkeiten. Irgendwann verstanden wir, dass wohl dieses JUZ damit gemeint sein muss, wenn Dirk von Lotzow singt, „Das haben sich die Jugendlichen selbst aufgebaut“. Und das Tolle daran: die Jugendlichen, das waren wir. Bei jedem Besuch trafen wir im JUZ auf andere weirde Gestalten mit bizarrem Musikgeschmack (Grindcore, Americana, Digital Hardcore, Freakpop) und obskuren Ideen zur Nutzung des JUZ (Gartenbau-AG, japanischer Horrorfilmabend, Brettspiele). Alle waren auf ihre Art schräg – wir befanden uns schließlich in Neunkirchen -, doch einer der Typen stach irgendwie durch besondere Andersartigkeit heraus. Er war brünett, noch nen Ticken älter und um einiges bärtiger als die Gruppe der Studenten, sprach stets mit ruhiger Stimme und verfolgte spürbar eine eigene Agenda. Von allen wurde er distinktiv nur „der Sozialarbeiter“ genannt, seinen echten Namen sollten wir erst sehr viel später erfahren. Ständig ermunterte er uns, nicht nur faul rumzuhängen und Punk-CDs zu hören, sondern donnerstags zur Vollversammlung (kurz: VV) zu kommen. Dort könnten alle Eingetrudelten über das Programm und die Gestaltung ihres JUZ diskutieren und durften gemeinsam entscheiden, was passiert. Selbst über etwas entscheiden, das klang super und war uns aus Schule, Familie, Sportverein und Leben insgesamt eher fremd. Im Rückblick war das mit 15 Jahren wohl die erste praktische Demokratieerfahrung meines Lebens und zugleich erstaunlicherweise nicht abschreckend, sodass umgehend mein erstes ehrenamtliches Engagement erwuchs. Los ging’s für mich mit der Organisation einer eigenen kleinen Veranstaltung. Wir planten ein Kickerturnier für das ein unfassbar komplizierter Spielplan, verboten alkoholhaltige Pokale sowie peinliche Urkunden zusammengestellt werden mussten. Mit der Teilnahme von rund 20 Jugendlichen, die mit zum Teil eigens erworbenen Funktionshandschuhen ihre Siegeschancen erhöhen wollten, zog zwar ein unliebsamer Hauch neoliberalen Wettbewerbseifers ins JUZ ein. Bei mir hinterließ dieser Tag aber etwas, was ich heute, nach meinem Soziologiestudium, als nachhaltige Selbstwirksamkeitserfahrung im Rahmen von Selbstverwaltungsstrukturen bezeichnen würde. In meinem Bewertungssystem mit 15 Jahren war es schlicht „amok“.

Ein paar Tage später wurde ich Mitglied des Juz-Betreibervereins, irgendwann auch Vorstandsmitglied und sogar Kassenwart. Ich lernte lässiges Abhängen und Geld zählen, die Verkehrssicherungspflicht und das unliebsame Jugendschutzgesetz von ganz anderen Seiten kennen und musste zusehends eine eigene Position zu demokratisch beschlossenen Sanktionen, wie temporären Hausverboten, entwickeln. Meine Freund:innen und ich rutschten immer weiter in die Professionalisierung unseres jugendlichen Engagements ab. Auf dessen Höhepunkt besuchten wir Seminare des „Dachverbands juz-united“ zum  Erwerb einer merkwürdigen Jugendleiterkarte in irgendwelchen abgelegenen Bungalow-Siedlungen, deren Programmatik irgendwo zwischen sozialistischen Trockenübungen und feuchtfröhlicher Unbekümmertheit lag. Einige der damals Teilnehmenden hat die offene Jugendarbeit trotz aller eskalativen Eskapaden, pädagogischen Interventionen,  unfreiwilligen Brecherchen und gebrochenen Herzen bis heute nie mehr losgelassen und sie traten den (im Saarland immerhin sehr kurzen) Marsch durch die Institutionen an. Zugegeben, das alles war vielleicht gar nicht mehr so Punk. Unser Engagement im JUZ ermöglichte uns aber über mehrere Jahre – de facto über meine gesamte Jugendzeit – jede verdammte Woche mitten in (sub-)cultural wasteland Neunkirchen/Saar Live-Konzerte für lau zu besuchen. Doch zugegeben, der Laden war zunächst nicht wirklich ein typisches „Punker-Juz“, wie das nahegelegene AJZ Homburg, um das sich Mythen von  wöchentlich brennenden Sofas bis weit über die Grenzen des Saar-Pfalz-Kreises rankten. Zu unserem Leidwesen erklang auf unserer Bühne oftmals weniger Punkrock als  weinerlicher Emocore, Indiepop und verschiedene Bands mit grunzenden Männern. Keiner sang die Lieder, die wir hören wollten, also mussten wir auch hier selbst ran.

Ein Konzert zu organisieren, erscheint den meisten Menschen wohl wie eine sehr  abwegige und maßlos überfordernde Tätigkeit, die sie lieber Vertreter:innen der Kulturindustrie überlassen. Ohne den blassesten Schimmer von Tontechnik, Booking oder Gagenverhandlungen zu haben, schrieben wir in schlechtem Schulenglisch massenweise E-Mails und Myspace-Messages mit allerhand internationalen Punkbands hin und her bis diese irgendwann den Zauberworten „Doordeal“ und „Free Drinks“ zustimmten. Wir bastelten Flugblätter und räudige Plakate, rührten die Werbetrommel und bei vielen Shows platzte die ehemalige Landeszentralbank auch aus allen Nähten. Leider hatten wir keinen blassen Schimmer davon, wie man einen Schrubber korrekt bedient oder dass manche Bands sich unter „Schlafplätzen“ etwas anders vorstellten als den versifften Backstageraum und unter „Catering“ keine halbverkohlten Tiefkühl-Pizzabaguettes. Wir waren genügsame schmuddelige Jungpunks mit zu viel Verstand und zu wenig Ahnung. Trotzdem schafften wir es irgendwie in nur wenigen Jahren, dass Punkbands aus aller Welt auf Einladung von ein paar Teenagern den Weg nach Neunkirchen/Saar fanden. In besonderer Erinnerung blieben SMZB aus China, TIME AGAIN aus L.A. oder LOS FASTIDIOS aus Italien, bei deren Konzert es mal wieder Ärger mit einer Gruppe Neonazis gab, die vor der Tür JUZ-Besucher:innen auflauerten. Die fünf resoluten Italiener stellten uns kurzerhand die ungeahnte Multifunktionalität ihrer Mikrofonständer unter Beweis und gemeinsam konnten die rechten Schläger verscheucht werden. Irgendwann wurde der im Juz-Keller befindliche Luftschutzbunker der ehemaligen Landeszentralbank zu Proberäumen umgebaut und die Anzahl von neu gegründeten Bands in unserem Bekanntenkreis schoss in kürzester Zeit wie Pilse die Kehle hinunter. Mutmaßlich war die Anzahl von Punkbands in und um Neunkirchen nie wieder größer als in späten 00er-Jahren. Die meisten davon trugen so bizarre Namen wie PSYKLOPS, KOMMANDO KEULE, AUSLAUFMODELL, PATRICK AND THE PAKISTANIS, SHIT HOUSE FLYERS oder UPFLUSS.

Mit letztgenannter Band sollte Punk für mich auf eine ganz andere Weise praktisch  werden. An einem Nachmittag im leicht schimmligen Juz-Keller keimte bei ein paar Freund:innen die Idee, neben Faulenzen und einem Britpop-Projekt auch eine eigene Punkband zu gründen. Nach einigem Hin und Her, wer sich nun welches der kaum beherrschten Instrumente anzunehmen wagt, und einigen Besetzungswechseln fanden sich schließlich fünf junge Punks zusammen, die nur noch letztes Problem plagte: Niemand wollte die anstrengende Tätigkeit des Texteschreibens übernehmen. „Punk kann alles“, hatte ich irgendwo aufgeschnappt und klinkte mich kurzerhand als klandestiner Ghost- Schreiberling in die Band ein, deren Sängerin bis heute Songs aus meiner Feder in die Visagen des Publikums brüllt. So umging ich die Notwendigkeit, bei nervigen Bandproben Leistung erbringen zu müssen und konnte meine subversiven Botschaften geschmeidig unter die Leute bringen lassen. Ein sehr früher Text trug den Namen „Ostsaarzorn“ und thematisiert als maßlose Hyperbel ein Lebensgefühl kolossaler Verwüstung, das wir als kleine brave Punks in der schäbigen Stadt sehr gerne ausgelebt hätten, uns aber dann doch nie so richtig trauten („Stummplatz brennt“). In der eigenwilligen Rolle des Texters konnte ich mir den Traum einer eigenen Band erfüllen, ohne je ein Instrument lernen oder auf der Bühne zu stehen zu müssen. Eine bis heute eigenwillige Konstellation, aber Punk und das JUZ machte für mich fast alles möglich.

Apropos Müßiggang! Ein besonders eigentümlicher Menschenschlag, der sich im JUZ von Zeit zu Zeit herumtrieb, waren die mit Blick auf ihre Arbeitsscheue so beeindruckenden wie vorbildlichen jungen Männer, die sich „Zivildienstleistende“ nannten. Zwei von ihnen sind mir im besonderen Gedächtnis geblieben. Der erste war ein langhaariger Metalhead mit skandinavischem Namen, der sich jedes Mal diebisch freute, wenn er bei „politischen“ Veranstaltung im JUZ gesetzlich nicht zur Teilnahme verpflichtet war und sich zu den Klängen von BOLT THROWER mit einem Trinkhorn in seine Höhle zurückziehen durfte. Der zweite „Zivi“ im JUZ war hingegen ein rotzfrecher Iropunker, der sich jener beeindruckenden Haarpracht überraschenderweise sehr bald entledigte. Uns wissbegierigen Jugendlichen erklärte er äußerst detailreich, mit der neuen Frisur hielte ihn die fiese Nazi-Glatze von nebenan nun für einen Kameraden. „Un wenn er dann näher kommt“, schrie er laut, während er mit geballten Fäusten in der Luft herumfuchtelte, „Bämm, hadder änie!“ So geschockt wie ehrfürchtig lauschten wir seinen Schilderungen über strategischen Gewalteinsatz gegen Neonazis, zogen jedoch im JUZ andere Engagementformen gegen Rechts vor. Das Problem war dabei für uns leider keineswegs nur theoretischer Natur. Im Saarland waren in den frühen 2000er-Jahren optisch in den 80ern, aber geistig in den 30ern hängen gebliebene Schlägertypen in der Öffentlichkeit fast tagtäglich sichtbar und wie ihre heutigen Nachfolger von „Identitärer Bewegung“ und „Junger Alternative“ auch für alternative Jugendliche wie uns, eine echte Bedrohung. Mehrfach wurden Besucher:innen des JUZ in Neunkirchen von Neonazis angefeindet, attackiert und zusammengeschlagen, immer wieder wurden uns die Fensterscheiben eingeworfen. Die Polizei konnte oder wollte nie die Täter:innen ermitteln. Mit der Eröffnung eines Ladenlokals für den täglichen Neonazi-Bedarf (Kleidung, Rechtsrock-CD’s, Schlagringe) mitten in der Neunkircher Innenstadt verschärfte sich die Gefahrenlage. Wir organisierten im JUZ daraufhin Vorträge zur Aufklärung über Antisemitismus, über die extrem Rechte in der Region oder deren Szenecodes und beteiligten uns an  Demonstrationen und Kundgebungen in der Stadt, bis letztlich der Laden schließen musste. Ein politisches Erfolgserlebnis, an das alle Beteiligten des breiten Bündnisses mit Sicherheit gerne zurückdenken.

Der „Sozialarbeiter“ und seine Kolleg:innen von juz-united versuchten uns immer wieder mit verschiedenen pädagogischen Formaten ein „harmloseres“ Engagement schmackhaft zu machen. Im Vergleich zu Punkkonzerten und antifaschistischen Veranstaltungen stießen Film- oder Foto-Workshops aber auf eher bescheidene Resonanz im JUZ. Auch an eine krude Diskussionsrunde mit Vertreter:innen der Lokalpolitik im JUZ kann ich mich erinnern, bei der die steifen Mitglieder der unterschiedlichen Parteien vor dem punkaffinen Jugendpublikum allesamt keinen leichten Stand hatten. Eines Tages tauchten auch ein paar schlabbrige Baggypants-Typen im JUZ auf und wollten uns in einem Workshop das Rappen beibringen. Das fanden wir als Punks natürlich peinlich, gründeten ein paar Monate später – nachdem die lokale Band „539“ HipHop great again gemacht hat – im Keller des JUZ eine eigene Rap-Combo, die in bester D.I.Y. Manier den Besitzer des örtlichen Nazi-Fachgeschäfts auf die Hörner nahm.

Wenn ich an meine Zeit im JUZ zurückdenke, war diese geprägt von krassen Erfahrungen funktionierender Selbstorganisation, dem gelebten Spirit von D.I.Y. und einem fast alltäglichem Gefühl, jede noch zu absurde Idee umsetzen zu können, die einem gerade in den Kopf kommt – oder es zumindest zu versuchen. An Mitstreiter:innen mangelte es jedenfalls nie. Nicht alles gelang den unterschiedlichen Ideengeber:innen im JUZ, manches versandete (wie der Versuch, einen Fluchttunnel aus dem Proberaum im ehemaligen Tresorraum der Landeszentralbank zu graben), anderes verschimmelte (wie der ein oder andere „Dalles“ oder die poröse Bausubstanz des Flachdachs) oder war schlichtweg nicht konsens- oder kompromissfähig (wie vom Staatsschutz monierte Soli Konzerte für „die Saarbrücker Antifa“). Auch wie ein Umgang mit (Interessens-)Konflikten innerhalb einer größeren und sehr heterogenen Gruppe aussehen kann und wie besser nicht, lernten wir nirgendwo anschaulicher als im JUZ.

Im noch immer zarten Alter von 19 Jahren hielt ich nach 4,5 Jahren „Vollzeit“ im JUZ mit dem Abiturzeugnis endlich die Fahrkarte in den Händen, mit der ich Neunkirchen so schnell und dauerhaft wie möglich verlassen konnte. Zu Beginn meines folgenden Irgendwas-mit-Menschen-Studiums im nahen Osten („Rheinland-Pfalz“) vermisste ich mein JUZ hier und da und mit Blick auf das dort herrschende Elend („Fassenacht“) und die weinselige Tristesse war mir schnell klar, dass auch da dringend Punk-Konzerte organisiert werden mussten. Mit einem kleinen ehemals besetzten Haus mitten auf dem lokalen Uni-Campus gab es nur einen Ort in der Stadt, der sich dafür anzubieten schien. Meinem JUZ sah dieser Ort zwar auf den ersten Blick ähnlich, er wies jedoch bei näherer Betrachtung allerhand arglistige Unterschiede auf. Die Vollversammlung hieß plötzlich „Plenum“, es gab überhaupt keine Hierarchien und keinen Vorstand mehr, ebenso fehlten  Mindesthygienestandards und funktionierende sanitäre Einrichtungen. Alles war maximal chaotisch, dreckig und wild – sogar mit ein paar auf dem Gelände umherstreunenden Ratten war man sogar mit Vornamen per du. Was ich bisher über Selbstverwaltung zu wissen glaubte, erfuhr in einem „echten“ Autonomen Zentrum, umgeben von einem Bauwagenplatz voller Wursthaar-Crusties, Lifestyle-Anarchos, linken Scharlatanen und Feuerspuckerinnen einen überaus konfusen reality check. Zu den dort von mir und meinen neuen Uni-Freund:innen organisierten Konzerten kam nicht mehr selbstverständlich die gesamte Kleinstadtjugend, sondern meist nur eine Hand voll langzeitstudentischer Exzentriker:innen, getrieben von einer Melange aus emotionaler, psychischer und politischer Issues. Das war mal exzessiv, mal irritierend und manchmal frustrierend, doch aufgeben war natürlich keine Option. Mit zunehmender Erfahrung wurden die von uns organisierten Konzerte professioneller – sogar Frühstück und Schlafplätze wurden nun mitgedacht und die Bands nicht mit ner Kiste Bier der Nacht überlassen. Auf unsere Einladung besuchte uns auch die Band DUESENJAEGER, für die das kleine besetzte Haus mittlerweile nicht mehr ausreichen sollte und ein größerer Veranstaltungsort in der hessischen Nachbarstadt aufgetrieben werden musste. Viele der Bands, denen wir einen ihrer ersten Auftritte ermöglichten, spielten später in großen Hallen und hatten kommerziellen Erfolg. Man könnte glatt sagen unser Engagement trug zur Etablierung einer lebendigen Subkultur irgendwo im Agrarland Rheinland-Pfalz bei, wenn das nicht wie mieses Marketing-Sprech klingen würde. In jeden Fall boten wir den unterschiedlichsten Menschen Räume, um mit wenig oder sogar ganz ohne Geld miteinander in Kontakt zu kommen, sich auszutauschen und den ein oder anderen rauschenden Abend mit Live-Musik zu erleben.

Wir springen in die Gegenwart. Mittlerweile lebe ich im fernen Osten („Leipzig“) und gehe im Tausch gegen meine verbliebene Arbeitskraft einer enorm seriösen Tätigkeit in einem Büro nach. Mit zunehmendem Alter, Rücken, Wohlstand und Wellnessbedarf sowie angesichts des subkulturellen Überangebots der neuen Stadt, die jede Woche circa 20 Punkkonzerte zu bieten hat, glitt ich zusehends in eine bequeme Konsumhaltung ab. Mit der Zeit wuchs die Unzufriedenheit mit diesem status quo, da für mich Punk ohne eigenes Aktivwerden und Mitgestalten den unwiderstehlichen Reiz des Spontanen und Unkalkulierbaren verliert. Mir war klar, dass ich hier einen neuen, einen ironisch-intellektuellen Zugang zu Punk finden musste, der zu meinem neuen Lebensabschnitt passt. Ein neues Medium musste her. Kurzerhand gründete ich gemeinsam mit einer diffusen Anzahl weiterer Personen in Lohn und Brot ein Fanzine (deutsch: Fachjournal). Unter dem Namen „OSTSAARZORN – Das Fachjournal für Punk“ erscheinen seitdem in unregelmäßigen Abständen gedruckte Ausgaben mit Textbeiträgen von mir und allerhand Schreiberlingen aus dem deutschsprachigen Raum. In den ersten beiden Ausgaben beschäftigten wir uns vor allem mit den Punkerfahrungen in unserer Jugend. Ich nahm das Saarland literarisch auseinander und setzte die entstandenen Bröckchen in möglichst provokativer Manier wieder neu zusammen. Plötzlich fand ich mich im Zuge journalistischer Quellenarbeit in gänzlich neuer Rolle wieder – manchmal, ohne zu wissen, was ich da eigentlich tue. Das hieß beispielsweise, um Mitternacht besoffen auf einer Burgruine ein Interview mit DUESENJAEGER zu führen, jener Band, die ich 17 Jahre zuvor bei meinem ersten Punkkonzert im JUZ verpasst hatte. Dass einer der drei Beteiligten während des Interviews gegen das mittelalterliche Gemäuer urinierte, tut als anekdotische Randnotiz nur wenig zur Sache, illustriert aber recht anschaulich den Nonkonformismus, der Punk auch bei alten Herren noch innewohnt.

Die Veröffentlichung der Zeitschrift OSTSAARZORN schlug überraschend hohe Wellen und brachte mich auch mit verschiedenen Personen wieder in Kontakt, die vor knapp 20 Jahren Teil der Punk-Szene in und um Neunkirchen waren. Einige davon machen heute Soziale Arbeit, sind Lehrkräfte oder politisch engagiert, sie alle berichteten mir, wie sehr sie von den Erfahrungen im JUZ bis heute profitieren. Viele besuchen oder organisieren noch immer Punkkonzerte und sind – trotz zahlreicher offenbar wirkmächtiger Gelegenheitsstrukturen in Zeiten des gesellschaftlichen Rechtsrucks – keine Arschlöcher geworden.

Mir geht es mit diesem Text geht nicht darum, bloß Geschichten von sellemols, aus der vermeintlich oder tatsächlich wilden Jugend aufzuwärmen oder der puren Nostalgie zu frönen. Er soll vermitteln, dass es sich durchaus lohnt, den Mut aufzubringen, um vermeintlich schräge oder abwegige Dinge zu tun, die man gerne tun will, auch wenn man erstmal nicht weiß, wie. Du wachst eines morgens auf und willst Journalist:in sein und eine Zeitschrift herausgeben? Nicht hält dich davon ab! Du willst mit über 40 zum ersten Mal in einer Band spielen? Let’s go! Das ist der vielzitierte spirit von D.I.Y. und ein beträchtlicher Teil davon, was Punk noch und für immer so geil macht. Ein Weiterer ist seine klare politische Haltung gegen Ungerechtigkeit und Menschenverachtung aller Art. So war für mich sofort klar, dass etwaige Erlöse, die mit dem Vertrieb meiner Punk Zeitschrift zusammenkommen, ausnahmslos an Initiativen und Einrichtungen gespendet werden, die sich zum Beispiel gegen Antisemitismus, für geflüchtete Frauen oder den Rechtsruck in Ostdeutschland einsetzen. Das gehört zu Punk ebenso selbstverständlich dazu, wie die feste Entschlossenheit, Dinge gemeinsam und selbst in die Hand und in Angriff zu nehmen – jener unbesiegbaren Überzeugung, die ich auch meiner Zeit im JUZ Neunkirchen zu verdanken habe. Es war Punk, der mich mit 15 Jahren erstmals ins JUZ zog und bis heute zu bezaubern vermag.

Zum Autor:
Tobi Grosz (*1988 in Neunkirchen/Saar) ist Soziologe, Nagetierfreund, ein Leben lang (Juz-)Kassenwart und seit 2018 der Herausgeber von „Ostsaarzorn“, dem Fachjournal für Punk. Er lebt, schreibt und arbeitet in Leipzig.

Die Fotos und die meisten Flyer sind von Tobias Grunow

Politische Aktionen im Juz: vor allem Antifa