Jugendkulturarbeit extrem
Ich weiß nicht mehr, wann es genau war, so Ende der Neunziger. Es war eine Phase im AJZ Homburg wo wenig lief, die Angriffe der Stadt auf das Juz zunahmen und unser Verband als Support gefragt war. Was auch hieß, die Verbliebenen bei der Programmorganisation zu unterstützen. Um mehr Leute ins AJZ zu locken überlegte man, mal wieder eine bekanntere Band aufspielen zu lassen. Die Vollversammlung beschloss, dass DIE KASSIERER da geeignet wären. Wer diese Band nicht kennt sollte unbedingt bei
https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Kassierer nachschlagen. Texte und Show sind hohes Kulturgut, suchen nach dem Sinn des Lebens („Im Jenseits gibt es kein Bier“) und diskutieren gesellschaftliche Verhältnisse („Besoffen sein“). Prollpunk wäre eine diffamierende Etikettierung.
Fix
Also egal, es wurden DIE KASSIERER engagiert, Werbung gemacht und die PA organisiert. Für die PA und das Abmischen war damals traditionell „Fix“ zuständig, ein Szene-Soundprofi, dem kein Konzert zu laut und dreckig sein konnte. War es an diesem Abend dann aber doch. Das war so: Ich war zur Unterstützung im Konzertraum um beim Aufbau zu helfen. „Fix“ kam mit seinem klapprigen Bus in den Hof des AJZ gefahren, stieg aus, kam zu uns in den Konzertraum, schaute sich um, sog den AJZ-Pesthauch ein, drehte sich um
und wir dachten er holt sein Equipment zum aufbauen. Er ging also zum Bus, stieg ein und fuhr einfach davon. Ohne ein Wort. Stille im Raum, alle waren geschockt. Ein Konzert geht ja bekanntlich nicht ohne Beschallung – also was tun im Worst-Case-Szenario?
Beschallung
Der Verband verfügte zu dem Zeitpunkt nur noch über Reste einer eigenen PA. Einzelne Bestandteile verschwanden bei den Konzerten immer mal wieder. Es war eine Art Kulturszene-Förderung materieller Art, die SM 58 (ein sehr begehrtes Mikrofon) gingen weg wie geschnitten Brot. Wir fanden diese Form der Umverteilung nicht sympathisch, da es ja unser eigenes Eigentum betraf.
Außerdem ging immer was kaputt. Unsere PA war ja ständig auf Tournee und kam immer etwas lädiert zurück. Kabel kaputt, Mischpult dahin, Verstärker tot! Als wollten die PA-Semiprofis immer austesten wo genau dieser eine Punkt bei den PA-Komponenten liegt, den man nicht überschreiten sollte – und also muss. Egal, Philosophie! Es kam uns zugute, dass ich von Haus aus eigentlich Schwachstromer bin und über gewisse Reparaturkenntnisse verfüge. Aber das artet jetzt aus, die eigentliche Geschichte ist eine ganz andere:
Mischen impossible
In meiner damaligen WG wohnte ein Jazzmusiker samt Anlage. Die wurde also spontan „geborgt“ und mit den Resten der Verbandsanlage zusammengestückelt, ins AJZ transportiert und verkabelt. DIE KASSIERER bauten auf und es gab eine Art Soundcheck. Hinter dem Mischpult stand, mangels Alternative, ich und tat mein Bestes. Das war nicht viel, aber man muss ja bei solchen Konzerten gottseidank kein Wort verstehen, was von dem Gesang über die Anlage bis ans Ohr der Kundschaft dringt. Außerdem waren da sowieso nur Fans, die kannten ihre Texte.
Suffkacke
Es ging also voran, der Mob kochte. Plötzlich umwehte mich ein herb-säuerlich-intensiver
Hauch. Ein bestialischer Gestank machte sich aus Richtung der Toilettenanlage im Raum breit. Suffauscheidungen intensivster Art! – direkt aus der Hölle. Der Raum war brechend voll, aber nun verschob sich die pogende Masse deutlich weg vom Toilettenbereich hin zur Bühne. Ich hatte von der Mischerempore einen guten Überblick über die nahende Katastrophe. Es wurde eng und kritisch. Gefahr war im Verzug! Soziale Arbeit ist ja manchmal wie Extremsport. Ich schritt also beherzt zur Tat. Ursachenorientiertes Arbeiten war angesagt. Auf der Toilette war das Drama schnell ausgemacht. Ich kletterte auf die Toilettenschüssel in der Nachbarzelle und analysierte die Sachlage. Ein Besucher war bei Erledigung seines Geschäfts überfordert und eingeschlafen. Die Kacke war schwer am Dampfen. Eine olfaktorische Penetration sondergleichen, eigentlich ein Fall für die Berufsgenossenschaft. DIY und Improvisation als Grundlage sozialen Handelns waren aber schon tief in die Profession eingedrungen. Ich organisierte einen Besen, hangelte mich über die Trennwand und versuchte mit dem Besenstiel die Toilettenspülung hinter dem Rücken des sanft Eingeschlafenen zu betätigen. Filigranes Handwerk war gefragt. Es brauchte länger bis es gelang. Die Suppe wurde weggespült, der Arsch gewaschen. Der Typ erschreckte kurz ob des Geschehens an seinem Hinterteil – und schlief weiter. Ging ihm wohl am A… vorbei. Aber egal, die Katastrophe war abgewendet, wenn auch erst, nachdem sich der Nebel langsam gelichtet hatte. Soziale Arbeit at its best, ich war tief in die Lebenswelten des Klientels eingetaucht.
Nach dem Konzert soll es im Thekenraum noch hoch hergegangen sein bei der After-Show-Party. Ich baute dann aber die Anlage ab und verdrückte mich. Hatte die Nase noch voll. Später hing in der Verbandsgeschäftsstelle ein Foto einer Kollegin im Kreis der KASSIERER. Sie war ein Fan. Ich ging immer ehrfürchtig vorbei.
PS: Ich betrachte das geschilderte Erlebnis im nachhinein als eine der größten Taten im Rahmen meiner engagierten Jugendkulturarbeit beim Verband. Alles stimmte: Lebenswelt- und Sozialraumorientierung, klare Zielbestimmung und Methodenauswahl, Operationalisierung und Umsetzung, nicht zu vergessen der professionelle Habitus. Die Hilfe zur Selbsthilfe musste aufgrund des Handlungsdrucks vernachlässigt werden. Und jetzt, wenn auch etwas spät, Dokumentation und die Anregung zur Praxisreflexion. Bitteschön!
PPS: Die Unterstützung von Juz-Konzerten war Ende der 90er Jahre Schwerstarbeit. Jede Woche gab es Konzerte und unsere PA war stark nachgefragt. Das hieß oft auch Anlage schleppen, aufbauen und Sound abmischen. Mein roter Bully war unersetzlich. Vor allem, als es in Lebach losging, wurde das Juz mit Konzerten geflutet. Es gab sonst in der ganzen Region keinen besseren Konzertort und gleichzeitig gab es etliche Leute, die ihre Kontakte zu Bands nutzten und als Konzertveranstalter fungierten. Den Phasen mit zum Teil zwei Konzerten pro Woche folgten dann irgendwann auch Phasen, wo eine gewisse Sättigung spürbar wurde. Außerdem gab es mit den Juzen Illingen, Saarlouis und Neunkirchen irgendwann auch andere Konzertorte, die in der Region überzeugen konnten. Insgesamt aber eine sehr virulente Epoche für divese Musikszenen, die die Juze als zentrale Auftrittsorte bespielten. Das Nachzeichnen dieser Punk/Rock/Hardcore-Konzertphasen in den einzelnen Juzen wäre ein eigenes Kapitel wert. Wer traut sich?
TK