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Verband saarländischer Jugendzentren in Selbstverwaltung e.V.

„Der Ruf der Freiheit“ – von Melanie Caspar

„Hey Melanie“, sprach mich mein Schulkamerad Peter an, mit dem ich bis zu jenem Zeitpunkt nicht besonders viel zu tun hatte. Es war das Jahr 1995 und wir besuchten die 9. Klasse des Christian-von Mannlich-Gymnasiums in Homburg. „Hier hast du eine Kassette von Rage Against the Machine und Nirvana. Die habe ich selbst aufgenommen und sie wird dir sicherlich gefallen. Mir ist aufgefallen, dass du dich in letzter Zeit total cool anziehst. Komm doch mal mit ins AJZ!“ Damals war ich 14 Jahre alt und liebäugelte seit einigen Monaten mit der Punkszene. Mit ihrem auffälligen Äußeren und ihrer Rebellion zogen mich diese Leute magisch an und ich wollte mehr über sie erfahren. Ich war allerdings noch sehr unsicher und traute mich nicht so recht Kontakt aufzunehmen. Also versuchte ich zunächst meinen Kleidungsstil anzupassen, damit sie auf mich aufmerksam wurden.
So kam es schließlich zu Peters Einladung und ich freute mich, dass sich mir die Tür zu dieser Welt nun tatsächlich öffnete. Im AJZ angekommen, fand ich total nette junge Leute mit bunten Haaren und zerfledderten Klamotten vor. „Wer bist du? Komm, setz dich zu uns!“, riefen sie. Ich fühlte mich sofort herzlich aufgenommen. Mit vielen dieser Jugendlichen teilte ich die Erfahrung, Opfer von Unterdrückung durch die Erwachsenenwelt zu sein und einen Hass auf Autoritäten entwickelt zu haben. Ich fühlte mich verstanden, Teil eines Größeren. Und ich begann das AJZ regelmäßig zu besuchen.

Jugend im AJZ

Das AJZ gab uns die Möglichkeit, unsere Freizeit ohne Kontrolle durch die Erwachsenen frei zu gestalteten. Zu unseren Hightlights gehörte das Surfen auf Autos und das verbotene Eindringen in die Hinterhöfe von Supermärkten, um uns dort an den Lebensmittelcontainern zu bedienen. Auch die durchgemachten Nächte in und um das AJZ waren besonders spannend und aufregend.
Viele der AJZ-Besucher nutzen die Räumlichkeiten auch für politische und musikalische
Veranstaltungen. Es wurden Info-Stände der Antifa aufgebaut und Diskussionen über politische Strömungen geführt. Zahlreiche Konzerte wurden zu einem einheitlichen und vergleichsweise erschwinglichen Preis von 10 DM angeboten, so dass jeder und jede die Möglichkeit hatte, auch bekanntere Bands der linken Szene zu sehen. Besonders die Konzerte der Bands „But Alive“ und „Kassierer“ bleiben mir in lebhafter Erinnerung.
Neben der Punk-Szene war das AJZ auch für viele andere Jugendszenen eine Anlaufstelle. Oft kam ein Konglomerat diverser für mich äußerst spannender Randgruppen zusammen. Skater, Hippies und auch die damals für mich neu entdeckte Straight-Edge-Szene fanden den Weg ins AJZ. So entwickelte sich das AJZ für mich zu einem Raum der Begegnung und der Auseinandersetzung mit verschiedenen Lebenswirklichkeiten und Vorstellungen. Dabei fiel mir auf, dass das Thema Musik immer eine große Rolle spielte. Jede Szene hatte ihren eigenen Musikgeschmack, ihre eigenen Bands und ich begann
mich mit diesen Musikrichtungen zu beschäftigen. Mit 16 Jahren spielte ich in der  Alternative-Band „Mein Wü“ Schlagzeug, mit der wir schließlich selbst ein Konzert im AJZ zum Besten gaben.

Zwei Seiten einer Medaille

Die Freiheit im AJZ hatte jedoch nicht immer nur positive Effekte. Zu meinen Erinnerungen an das AJZ gehören auch ungepflegte, heruntergekommene Räumlichkeiten, in denen wir uns stundenlang aufhielten. Es war schmutzig und stank nach allen möglichen  Körperflüssigkeiten, Ausscheidungen, Alkohol und Rauch. Die Schar an Keimen möchte man sich nicht vorstellen. Auch wurde ich mit äußerst bedrohlichen Menschen konfrontiert: Drogenabhängige ältere Punks und obdachlose Alkoholiker fanden sich dort ein und nahmen Kontakt zu uns Jugendlichen auf. Ich sah mit an, wie sich junge Leute an stärkeren Drogen ausprobierten oder sich häufig bis zur Alkoholvergiftung betranken. Manche, wenn auch wenige meiner Weggefährten, waren nicht in der Lage sich davon zu befreien
und wurden Opfer von Drogen und schweren psychischen Erkrankungen. Auch gab es gewalttätige Auseinandersetzungen und sexuelle Belästigungen. Diese Bilder schreckten mich zutiefst ab und zeigten mir sehr klar, wo ich nicht enden wollte.

Prägung bis heute

In meiner AJZ-Zeit habe ich nicht nur einen Filter für meine jugendliche Wut gefunden, sondern auch viele Möglichkeiten, mich intellektuell und musikalisch auszuleben. Mit vielen Freunden führte ich tiefgründige Gespräche über politische Systeme, philosophische Theorien, die Psychologie des Menschen, und natürlich über Musik. Im Alter von 16 Jahren beruhigte sich meine rebellische Punk-Phase und wurde von einer Zeit abgelöst, in der es nicht mehr nur um Abgrenzung, sondern vielmehr um ein innerliches und äußerliches Finden und Feilen an meiner Identität ging.
Heute denke ich gerne an die Zeit im AJZ zurück, an die guten wie die schlechten  Erfahrungen. Vieles, was ich in der Auseinandersetzung mit den AJZ-Gängern lernte, gab mir Orientierung in meinem jungen Erwachsenenleben. Ich wusste, was gut und was schlecht für mich ist, und was mich am Leben interessiert. Zu guter Letzt waren die Spuren, die diese Zeit hinterließ, einer der Grundsteine für meine akademische Laufbahn und meine Promotion im Fach Bildungswissenschaften. Auch die intensive Beschäftigung mit Musik begleitet mich bis zum heutigen Zeitpunkt.