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Verband saarländischer Jugendzentren in Selbstverwaltung e.V.

Das „kleine saarländische Dorf“ der selbstorganisierten Jugendzentren – Mündigkeit bei den „Unbeugsamen“

2005 war ich das erste Mal in Jugendarbeitsdingen im Saarland. Für einen Westfalen, der damals in Kiel arbeitete, liegt das Saarland nicht gerade ‚um die Ecke‘ und ich hatte keine Ahnung, was dort in der Jugendarbeit abging. Das „Jugendbüro“ im Stadtverband Saarbrücken in Trägerschaft des Verbandes saarländischer Jugendzentren in Selbstverwaltung führte damals am 07.07.2005 in Kooperation mit dem Jugendamt des Stadtverbandes Saarbrücken die Fachveranstaltung durch. Das Thema war: „Jugendarbeit im Spannungsfeld jugendlichen Eigensinns und Begrenzungen durch die
Erwachsenengesellschaft“ (1). Was ich damals von Theo Koch und Veronica Grindle und anderen Teilnehmenden erfuhr, ließ mich mit offenem Mund staunen: Im Saarland gab und gibt es weiterhin eine differenzierte Landschaft selbstorganisierter Jugendzentren. Ich dachte, wow, in der von hauptamtlichen Fachkräften ‚besetzten‘ Offenen Jugendarbeit der Restrepublik hat sich im äußersten Westen analog zu dem „kleinen gallischen Dorf“ in „Asterix und Obelix“ eine Art saarländisches Dorf der Selbstorganisation der OKJA erhalten. Gegen die Bedrängung durch das Imperium der Hauptamtlichkeit, das Cäsaren und Centurionen (sprich Fachkräfte) zwecks Übernahme der Macht über eigensinnige Jugendliche und ihre Vereine aussendet, hat sich hier ein Widerstandsnest gehalten: Das Dorf der Unbeugsamen! Und dann eröffnete Theo Koch (quasi als Miraculix) mit folgenden Fragen die Tagung: „Ermächtigt Jugendarbeit Jugendliche, ihre Interessen öffentlich zu artikulieren und oft im Konflikt mit der Erwachsenengesellschaft weitestgehend durchzusetzen? – oder ist sie Handlanger der Erwachsenengesellschaft, nutzt ihre pädagogischen Finessen um jugendlichen Eigensinn in verwaltungskonforme Forderungen und Angebote zu überführen. Und sorgt so für eine vermeintlich reibungslose Integration von Jugend – bei gleichzeitiger Entmündigung?“ Diese rhetorischen Fragen erwärmten mein jugendarbeiterisches Widerstandherz. Hatte ich doch als Kind und Jugendlicher im Jugendverband häufig das Lied „Als die Römer frech geworden“ (2) gesungen, das humorvoll den Widerstand gegen ein übermächtiges Imperium rühmt. Die saarländische Unbeugsamkeit und ihr Anspruch auf Mündigkeit kamen mir also gerade zu pass.

Theos Fragen könnten als Programm einer selbstorganisierten (offenen) Jugendarbeit gelesen werden: Jugendliche können dort eigene Interessen öffentlich artikulieren, in Konflikte mit den Erwachsenen darüber streiten und Umsetzung einklagen, eigensinnig(e) Gesellungs- und Arbeitsweisen umsetzen und sich nicht an Selbstbestimmung und Mitentscheidung hindern lassen.

Im Jubiläumsjahr zu Immanuel Kants 300stem Geburtstag, liegt es nahe, darauf zu verweisen, dass Kant eine solche Praxis als „Aufklärung“ verstehen könnte, als Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, die darin besteht, sich seines Verstandes nicht ohne Anleitung anderer zu bedienen. Kant zeigt in seinem berühmten Text (3) „Was ist Aufklärung?“ von 1784 wie Machthaber mit Deutungshoheit, z.B. Ärzte, Seelsorger, Buchautoren, Beamte, Lehrer versuchen, das „Geschäft des Denkens“ für andere zu übernehmen. Er zeigt wie schwer es für (junge) Menschen ist, selbstständiges Denken zu entwickeln, wenn (mit beißender Ironie formuliert) „schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie [die Menschen] gütigst auf sich genommen haben“ den Kindern und Jugendlichen Mündigkeit absprechen. Oder wie Theo formuliert: Sie versuchen, mit „pädagogischen Finessen (…) jugendlichen Eigensinn in verwaltungskonforme  Forderungen und Angebote zu überführen“. Und Kant fährt fort „Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern
und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab.“ Auch das kennen wir heute, der Gängelwagen heißt Prävention; statt Jugendlichen mündige Entfaltung von Eigensinn zuzutrauen, werden Jugendliche präventiv mit Warnungen vor Gefahren umstellt und es wird verhindert, dass sie selbst „gehen lernen“. Mit Kant lässt sich hier gegen die klassische Befürchtung der Erwachsenen und Vormünder argumentieren, dass Selbstorganisation von Kindern und Jugendlichen schief gehen würde und man sie zu ihrer eigenen Sicherheit hindern müsse, allein zu gehen. Kant ermutigt uns, dass diese Gefahr nicht groß sei und dass zudem „einigemal Fallen“ unvermeidbar ist, wenn man lernt, alleine zu gehen, zu denken und zu handeln. Nicht das Fallen ist die Gefahr, sondern am alleine gehen gehindert zu werden.

Gegen die Gefahr der Entmündigung (die Theo anspricht), argumentiert Kant, dass die Anforderung an ein Individuum, nämlich alleine frei und vernünftig zu denken, sehr hoch ist und nur durch wenige Einzelne erreicht werden könne. Er schlägt angesichts dessen vor, sich kollektiv und öffentlich gegenseitig aufzuklären. „Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.“ Mündigkeit praktiziert man durch die argumentative Auseinandersetzung mit anderen unter Bedingungen der Freiheit. Die Inhalte ergeben sich aus den Themen, von denen die Beteiligten betroffen sind, in ihrer Lebenswelt, in ihrer selbstorganisierten Jugendeinrichtung, in ihrer Kommune usw.. Selbstorganisierte Kinder- und Jugendarbeit zielt darauf, dass junge Menschen in ihrer Mündigkeit anerkannt werden, die Themen und Probleme ihrer Betroffenheit mit anderen zu diskutieren und kollektiv über Lösungen zu entscheiden. Selbstorganisierte Jugendarbeit konfrontiert die Jugendlichen und Erwachsenen mit diesen Themen und will, dass weder „Faulheit und Feigheit“ noch besserwissende Vormünder und Oberaufseher das gemeinsame eigenständige und eigensinnige Denken und Problemlösen verhindern. Selbstorganisierte Jugendzentren schaffen dafür einen Raum, in dem man selber gehen, denken, streiten, und Lösungen finden muss, ohne dieses an andere zu delegieren. Kant wusste, dass so etwas eine Herausforderung ist, die nicht schnell und leicht umgesetzt werden kann.

Die selbstorganisierten Jugendzentren des Saarlandes kämpfen darum seit 50 Jahren und werden das weiter tun. Im „kleinen saarländischen Dorf“ haben die Unbeugsamen die Prinzipien der Aufklärung hochgehalten und geben der gesamten Jugendarbeit in der Restrepublik Beispiel und Anstoß: Habt Mut, euch eures eigenen Verstandes zu bedienen!

1 Die Doku der Tagung findet man unter: https://juz-united.de/dokumentationen/

2 Meine Lieblingsstrophe (der Text wurde 1849 von Joseph Victor Scheffel veröffentlicht): „Als die Waldschlacht war zu Ende, rieb Fürst Hermann sich die Hände, und um seinen Sieg zu weih’n, lud er die Cherusker ein, zu ’nem großen Frühstück.“ Jetzt weiß man, woher Goscinny und Uderzo das rituelle Ende der Asterix-Abenteuer nahmen; sie haben nur die
Tageszeit vertauscht.
Als Bielefelder wohne ich genau zwischen den Hauptorten des westfälisch-cheruskischen Widerstands gegen das imperialistische Rom; zwischen Kalkriese, dem wahrscheinlichen Ort der Hermannsschlacht und dem Hermannsdenkmal bei Detmold. Aber bevor es hier zu national-chauvinistisch wird, will ich dagegen auf die regionale Autonomie UND
Verbundenheit der Saarländer und Westfalen in einem Europa hinweisen. Denn wie die Nachbarn wissen, gilt François Mitterrands Satz: „Le nationalisme, c’est la guerre“.

3 https://www.projekt-gutenberg.org/kant/aufklae/aufkl001.html

Prof. Dr. Benedikt Sturzenhecker kommt aus einem kleinen Ort in Westphalen und hat dort als Jugendlicher daran mitgewirkt, ein Jugendzentrum aufzubauen. Nach seinem Studium der Sozialpädagogik und seiner Promotion hat er zahlreiche Forschungsprojekte geleitet, die sich mit der Demokratiebildung in der Offenen Jugendarbeit auseinandersetzen. Seit 1994 gibt er zusammen mit Prof. Dr. Ulrich Deinet das Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit heraus. Benedikt Sturzenhecker war in den letzten Jahrzehnten immer wieder als Dozent zu Fachveranstaltungen zur Offenen Jugendarbeit im Saarland eingeladen.