Das selbstverwaltete Jugendzentrum Köllerbach 1974 – 1976
Nix los in Köllerbach
Schon in der Stadthalle hatte ich ihn gesehen, den Typen aus Köllerbach, der wie ich an diesen Nachmittag und Abend in St. Ingbert der Musik der dort gastierenden deutschen Bands, für die sich die Bezeichnung „Krautrock“ zumindest hier in der Provinz noch nicht durchgesetzt hatte, zugehört hatte und vielleicht auch wie ich darauf abgefahren war. Auf der Heimfahrt saß er im gleichen Zugabteil – wo wir uns unauffällig taxierten. Umstieg in Saarbrücken, dann Umstieg in Völklingen zum letzten Zug ins Köllerbachtal. Obwohl die Bahn ziemlich leer war, standen wir beide im Verbindungsstück der Wagons und dort sprach er mich dann auch an. Ob ich ebenfalls ein Freund dieser Art von Musik wäre und welche Bands, und wann und wo, und ob ich wüsste, dass es seit neustem in Köllerbach ein Jugendzentrum gäbe, wo sich Leute träfen, die solche Musik und noch mehr gut fänden.
So trennte ich mich in dieser Aprilnacht 1974 auf dem Heimatbahnhof von Franz Josef Müller, später nur noch Müllerfranz geheißen, und als Gitarrist und Bassist nicht nur in den Blueskreisen der Hauptstadt gekannt und begehrt.
Eine Woche später machte ich mich auf und besuchte zum ersten Mal das selbstverwaltete Jugendzentrum Köllerbach.
Ich war damals gerade 22 geworden und leistete meinen Zivilildienst in der Kinder- und Jugendarbeit der Evangelischen Kirchengemeinde Malstatt ab, wo ich mit faustdicken sozialen Problemlagen, aber auch mit kreativen und engagierten Lösungsversuchen konfrontiert war. Die Leute dort bildeten mein soziales Bezugssystem, während ich in meinem Heimatort Köllerbach eigentlich niemandem mehr in meinem Alter enger verbunden war. Die so alt waren wir ich, spielten längst in einem anderen Film, sorgten sich um Karriere oder sogar schon um Familie und führten stolz Statussymbole vor und zur Schau. Mit dem, was mich wirklich interessierte, fühlte ich mich ziemlich isoliert und da Kneipen mich langweilten und ich die Spiele dort nicht verstand, wusste ich auch nicht, wohin.
Nun ja, bis ich ins Jugendzentrum kam.
Die Musik bringt es ins Rollen
Das erste, was dort anders war und mich sofort fesselte, war die Musik. Es liefen hier nur Langspielplatten und jeweils eine komplette Seite – das war ehernes Gesetz. Das Licht gedämpft, alte Sofas und Sessel standen herum, es gab eine Art Theke und dort für billiges Geld auch eine kleine Auswahl von Getränken. Bier, das sollte ich erfahren, war immer zu haben. Leute, die miteinander quatschten, der Musik zuhörten oder einfach auf einem Sofa abhingen und pennten. Manche davon kannte ich, andere würde ich mit der Zeit kennen lernen. Stets gab es mehr Jungen als Mädchen.
Das Thema, das immer etwas ins Rollen brachte, war die Musik. Sie bot Diskussions- und Streitpunkte, brachte Wünsche und Träume zum Ausdruck, erzeugte Bekenntnisse und Inspirationen. Da man auch Musik aus der eigenen Plattensammlung mitbringen und auflegen durfte, war sie ein Medium, mit dem man etwas über sich mitteilen konnte. Musik war DER Gesprächsöffner. Im Reden darüber konnten sich dann Erkenntnisse und Vorstellungen formulieren, auch Ideen und Ziele, Meinungen und Fragen. So lernte ich die Leute dort kennen, so lernten wir uns gegenseitig kennen.
Es gab aber auch Abende voller Blödsinnn, flacher Komik und haltlosem Gequatsche, voll Abzieherei, wie es damals hieß. Legendär wurde die „Bierstaffel“, die natürlich nur durchgezogen wurde, wenn wenig Betrieb und man unter sich war. Zwei Reihen von Flaschenbier (0,33 L) standen parallel bereit für zwei Gruppen zu je sieben Mann (das weibliche Geschlecht verzichtete gerne auf socherart anspruchsvollen Zeitvertreib). Mit dem Startschuss wurde das erste Bier gekippt. Erst wenn die Flasche wirklich leer war, kam der nächst Mitstreiter dran. So ging es weiter. Welche Gruppe zuerst fertig war, gewann eine neue Runde, die die Verlierer bezahlten. Ein anderes Vergnügen war, dass im ganz intimem Kreis spät abends die Anlage voll aufgedreht wurde und man konnte dann bei den Wahnsinnssoli sehen, wie gut die Köllerbacher die Luft- oder auch die Besenstielgitarre beherrschten. Das waren Momente von verrückter Ausgelassenheit, die selbst auf Konzerten damals noch nicht zu sehen gewesen waren. Heute normal, aber damals war es nur möglich im vertrauten Kreis von Gleichgesinnten.
Meist war der Umgang miteinander respektvoll und tolerant. Hatte man es übertrieben oder verhielt man sich so, dass es die meisten nervte, bekam man eine klare Kritik zu hören, aber immer sachlich und präzise vorgetragen. Ich musst schwer schlucken, als mir irgendwann meine Besserwisserei als störend und mein vorlautes Mundwerk als gar nicht so witzig vorgehalten wurde! Aber ich begann dann, mich auch mal von außen zu sehen und musste den anderen schon recht geben. Es tauchten dort auch durchaus sonderbare Gestalten auf, buntes, zunächst rätselhaftes Volk, doch war jeder willkommen und akzeptiert, so wie er war. Da kam mal einer, der war ziemlich bürgerlich gekleidet und sehr schweigsam. Mit der Zeit nahm er dann an Gesprächen teil, wenn auch in seltsamem Witz. Was Genaueres haben wir lange nicht über ihn erfahren, bis sich herausstellte, dass er Juniorchef einer Bäckerei im Nachbardorf war. Natürlich gab es Grüppchen und Cliquen und nicht jeder konnte mit jedem gleich gut. Aber es war anders als das, was wir sonst so kannten, und anders als das, was sonst noch in Köllerbach so lief.
Ursprung und Lage
Die Initiative zu diesem Jugendzentrum war im Herbst 1973 von der JU ausgegangen, zu der sich aber sehr schnell auch andere Interessierte gesellten. Verschiedene bestehende Jugendzentren wurden besucht und in der Gemeinde um passende Örtlichkeiten vorgesprochen. Dort und beim Landkreis wurde die Zurverfügungstellung von Geldern beantragt und bewilligt, die in den kargen Ausbau des Raumes und eine gute Stereoanlage investiert wurden. Mitte 1974 war dann alles inklusive dem Antrag auf Vereinsgründung in trockenen Tüchern. Dem ersten Vorstand des „Selbstverwalteten Jugendzentrums Köllerbach“, der im September 1974 gewählt wurde, gehörten
keine JU Mitglieder mehr an. Eine eher antiseptische Einstellung war einem andren Bewusstsein gewichen, mehr zur Lust am Individuellen, Wildwüchsigen, Alternativen hin.
Als Lokalität für das Jugendzentrum war von der Gemeinde das Untergeschoss eines Flügels der Albert-Schweitzer-Schule zur Verfügung gestellt worden. Sie liegt in einer Sackgasse, leicht in den Hang gebaute, der sich über Wiesen und Felder zum Köllerbachtal öffnet. Eine Diele mit Zugang zu den Toiletten öffnete sich zu einem 45 qm messenden Aktionsraum mit Vorratskammer. Vier Drahtglasfenster gingen hier zur Talseite.
Von daher war die Örtlichkeit ideal. Krach und Lärm waren von den Anwohnern ferngehalten, der Zugang zum „Zentrum“ war von Gebäuden verdeckt und im Sommer konnte man dort ungestört sitzen und die Natur genießen. Das Ganze hatte schon von der Örtlichkeit etwas Besonderes, auch Abgesondertes. Für das Publikum stand allerdings nur ein Raum zur Verfügung, wo sich das ganze Geschehen abspielte, das durch eine Hausordnung eingeschränkt und geregelt werden sollte.
High Times
Neben sportlichen Aktionen wie die Teilnahme an Fußballturnieren mit örtlichen Vereinsgruppen und gruseligen Nachtwanderungen wurden ab dem Herbst 74 monatlich zu besonderen Filmen eingeladen. Schon gleich am Anfang offenbarte sich mit „Monterey Pop“ ein neues, anderes Bewusstsein, das in der Musik und einer bunten Individualität seinen Ausdruck findet. Der Rausch als Gruppenerfahrung war ebenfalls Bestandteil dieses Bewusstsein. Bei einem Glühweinabend in der Vorweihnachtszeit wurden wir dieser Erfahrung teilhaftig – und sie war großartig! Euphorisch realisierten wir das Gefühl unserer Gemeinschaft. Im Innern war Glanz! Wir waren anders und doch gleich, zwar wenige aber stark. Und: Wir waren nicht mehr allein.
Inzwischen wurden alle unsere Veranstaltungen im örtlichen Anzeiger angekündigt und oft auch nachkommentiert. Da der Jugendzentrumsraum bis auf die üblichen unoriginellen Poster gegen Alkohol und Drogen schmucklos war, bemalte ich an einem Dienstagmorgen im April 1975 eine Wand mit einer Straßenszene nach dem Cover von Robert Crumbs „Uneeda Comix“, immerhin an die 13 qm. Das wurde ein Hit und gab unserem Jugendzentrum ein Alleinstellungsmerkmal.
...aber die Wirklichkeit!
Etwas, was wir allerdings mit vielen anderen selbstverwalteten Jugendzentren gemeinsam hatten, war die sich langsam abzeichnende Spaltung des Besucherstammes in zwei Lager. Während die einen das Jugendzentrum als Möglichkeit zu Aktionen wahrnahmen, war es für die anderen ein Ort für lockere Entspannung ohne Konsumpflicht. Vor allem diejenigen, die tagsüber schon einer ermüdenden Lohnarbeit nachgingen und andere, die von Natur aus eher passiv veranlagt waren, bildeten dieses Lager. Die etwas unternehmen wollten, waren eher SchülerInnen und StudentInnen, manche sogar mit einem politisch fundierten Konzept. Überschneidung fand noch am ehesten bei Sportangeboten statt, auch wurden die Filmangebote und die Konzerte, die wir inzwischen ebenfalls veranstalteten, gerne von allen besucht, doch war eine Blockbildung nicht mehr zu übersehen. Pauschal wurde der Kreis der Aktiven als „Bringer AG“ diffamiert und die Bemühungen um mehr Engagement und kreative Angebote liefen zusehends ins Leere, ganz zu schweigen von einer ursprünglichen Absicht zur kritischen Selbstanalyse und gesellschaftlichen Standortfindung. Dass der „Bringer“-Status eine radikale Umdeutung erfahren hat, zeigte sich 40 Jahre später, als die größte saarländische Brauerei Werbe-T-Shirts mit ihrem Produkt und der Prädikation „Bringer“ als Qualitätsauszeichnung verteilte.
Etwas frustriert beendete der erste, ursprünglich hochmotivierte Vorstand im Oktober 1975 seine Arbeit. Zwar formierte sich eine neuer Vorstand und das Angebot an Filmen, Feten, Ausflügen und Konzerten wurde weiter aufrecht erhalten, doch diese Routine überdeckte nicht einen gewissen Verlust an Visionen. Zunehmend rückte das Zentrum – natürlich auch wegen seiner durchaus selbstherrlichen Präsentation in der Öffentlichkeit – in den Blickpunkt ortspolitischen Interesses. Sowohl der Kultur- und Sozialausschuss der Stadt Püttlingen (zu der Köllerbach gehört) wie auch der Bürgermeister selbst statteten uns einen vorangemeldeten Besuch ab.
Angriff und Gegenwehr
Zunächst interpretierten wir dies als Entgegenkommen und witterten schon die Chance auf administrative und finanzielle Unterstützung, aber im Februar 1976 inspizierte eine Gruppe aus dem Stadtrat in unserer Abwesenheit unangemeldet die Jugendzentrumsräume, die draufhin sofort geschlossen wurden. In der Presse wurden daraufhin Artikel lanciert, die alle die gleiche reißerische Überschrift trugen: „Haschpartys im Jugendheim“, auch unterstützt durch „Überwachungen“ und „Überprüfungen“ der Völklinger Kriminalpolizei.
Damals hat uns das alles zunächst heftig überrollt. Heute stellen sich mir die Beweggründe für dieses Vorgehen folgendermaßen dar: In gewissen Kreisen des Stadtrates entwickelten sich gegenüber dem Jugendzentrum unbestimmte, diffuse Gefühle der Bedrohung. Denn dort fand etwas statt, das von diesen Leuten weder verstanden noch akzeptiert wurde. Schon unsere Ästhetik stellte ihr Wertesystem auf den Kopf. Sie fühlten sich angegriffen und der Verlust von Kontrolle war mit ihrer Mentalität absolut nicht vereinbar. So benutzten sie ihre politische Macht und ihre Verbindung
zur Presse für diesen Coup.
Nichts davon stimmte! Wir organisierten eine Pressekampagne mit Gegen- und Richtigstellungen, formierten uns zu einem Protestmarsch durch Köllerbach und verteilten sonntags am Kirchenausgang Flugblätter. So erfuhren wir die Kraft der Solidarität. Einflussreiche Bürger wollten mit uns reden und sprachen sich anschließend dann auch für uns aus.
Um es kurz zu machen: Im März durften wir wieder öffnen, das Jugendamt des Stadtverbandes stellte einen Praktikanten als Unterstützung zur Verfügung. Auch Sozialarbeiter Steinmetz vom Stadtverband fand Kontakt zu uns, brachte echtes Interesse auf und lud zu ungewöhnlichen Selbsterfahrungs- und esoterischen Meditationsübungen ein.
Das Ende
Im September kam es in Köllerbach zu einem schweren Autounfall, in den der damalige 1. Vorsitzende verwickelt war. Die Polizei stellte in seinem Wagen Haschisch sicher. Obwohl nie im Jugendzentrum Drogen konsumiert oder gehandelt worden waren, sahen wir durch die tragische Verquickung der Sachlage keine Möglichkeit mehr, ein Vertrauen der Bevölkerung in den Fortbestand des Jugendzentrum zu gewinnen. Am 27. September 1976 schloss das Jugendzentrum seine Pforte.
Aufbruch
Das Zentrum war zwar geschlossen, aber nicht weg. Es transzendierte sozusagen in unsere Herzen. Zwar stoben wir in die unterschiedlichsten Richtungen vom Zentrum weg, blieben aber dennoch zusammen. Zunächst trafen wir uns zwei-, dreimal im Jahr in einer dieser Hütten im Wald, um zu feiern und zu reden, uns auszutauschen über die Richtung, die man eingeschlagen hatte. Die alten Leute kamen und auch junge, die vom Zentrumsmythos gehört hatten und auch dabei sein wollten.
In den Kreisen dieser jüngeren Generation entstand 1981 die Idee zu einem Köllerbacher Rockfestival. Im Nachhinein betrachtet scheint die Zeit des Jugendzentrums wie eine Art Schwangerschaft für diese Idee gewesen zu sein. Mit dem Hinterwaldfestival eröffnete sich dann eine neue Basis zur Gemeinschaft, zur Weiterführung der Ansätze, die im Jugendzentrum erfahren und erprobt worden waren. Der Wunsch, etwas zusammen für sich und andere zu tun, Spaß zu haben und unkommerziell, nicht hörig der Wachstumsdoktrin, ein Festival für das geneigte Publikum anzubieten. Eigene Ideen Wirklichkeit werden zu lassen , war immer ein Ziel im Jugenzentrum gewesen und fand jetzt statt in der Realisierung des Traumes von der eigenen Musik, von der die vielen Bands aus dem Köllerbachtal ein beredtes Zeugnis ablegen können.
In diesem Jahr ging das 45. Hinterwaldfestival über die Bühne, immer noch getragen von Leuten, die auch schon im Jugendzentrum dabei waren. Weit über ein Dutzend sind noch in lockerer Formation übrig und immer dabei.
Dass das Jugendzentrum Köllerbach nur zwei Jahre bestanden hat, verblüfft uns heute. Es kommt uns vor, als sei es länger gewesen, drei, vier Jahre mindestens. Und wenn ich heute frage, was die Jugendzentrumszeit denn eigentlich bewirkt habe, lautet die spontane Antwort: AUSBRUCH!
Snoid Studios Köllerbach, Oktober 2024