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Verband saarländischer Jugendzentren in Selbstverwaltung e.V.

Ausbildung zur Dorfdissidenz

Meine erste erfolglose Juz-Initiative incl. Vor- und Nachgeschichte

Mit 14 Jahren aus einem Arbeiterbauerndorf mit 350 Eingeborenen im
Nordostsaarland zur Ausbildung in die große Hauptstadt Saarbrücken geworfen zu
werden war ein Schock. Es war 1971. Der erste Tag war traumatisch. Ich wurde im
Ostertal in den Triebwagen der Deutschen Bahn gesetzt, kam im Saarbrücker
Hauptbahnhof an und verirrte mich in den Straßenfluchten Richtung Fernmeldeamt
der Deutschen Post. Ich war am Ende bevor es angefangen hatte. Stand heulend am
Straßenrand bis ein Taxifahrer anhielt und das Häufchen Elend einsammelte und
Richtung Ausbildungsstätte transportierte. Aus abgrundtiefer Hilflosigkeit und
Verzweiflung erlöste mich da ein fremder Mensch mit einer solidarischen Geste,
die ich nie vergesse. 

Völlig aufgelöst stand ich eine halbe Stunde später in Reihe aufgestellt mit 20 seltsam anmutenden jungen Menschen vor dem Ausbildungsleiter und wurde in die Regeln und Pflichten bei der Lehre zum Fernmeldehandwerker eingeführt. Als eingeschüchterter 14jähriger vom Land stand ich da nun und musste mich in einer neuen Sozialgruppe orientieren. Erstaunlich was da an nie gesehenen Frisuren, Bärten, Tschiens und Verhaltensauffälligkeiten aus dem Saarland zusammenkam. Auf jeden Fall genug Role-Model-Potential auf einem Haufen für die nächsten drei Lehrjahre. Da wurde also ein Tor zu einer neuen Welt aufgestoßen und ich konnte für meine adoleszente Weiterentwicklung aus dem Vollen schöpfen.

Musikalische Früherziehung

Musik war zwischen den Auszubildenden das zentrale Thema. Mir wurde geraten, als
erste Langspielplatte meines Lebens doch THE WHO zu nehmen. Musikalisch war mein
Werdegang bis dahin von Mireille Matthieu, die ich auch wegen der Frisur auf
dem Cover verehrte, über diverses Heintjeplatten bis zur Plattensammlung meiner
fünf Jahre älteren Schwester, die von THE BEATLES bis zu T REX reichte, geprägt.
Immerhin verstand ich mich schon ein bisschen „Children of the Revolution“, die
Bravo meiner Cousine wurde nur noch heimlich gelesen. Und jetzt THE WHO und
danach natürlich noch diverses anderes Zeug das hier nicht näher aufgeführt
werden soll, weil es die Kernbotschaft schmälern würde. 

In der Summe blieb ich immer unentschieden zwischen den verschiedenen Stilen, bis heute. Damals aber musste man sich irgendwie entscheiden, zumindest sich dafür verantworten, was man musikalisch konsumierte. Musik war ja auch Platzanweiser für die jeweilige Peer-Group. THE WHO gefiel mir eigentlich gar nicht, Neil Young schon. War wohl Softie. Auch bei der Zeitschriftenlektüre trennten sich die Welten: Sounds oder Musikexpress, hier gab es nur entweder-oder. Wie Beatles oder Rolling Stones früher.

Politische Früherziehung

Neben Musik war Politik das große Thema. An die Themen erinnere ich mich nicht
mehr, man kann ja nachschauen was Anfang der 70er los war. Aber die
Organisationen waren wichtig inklusive der dazugehörigen Protagonisten (die
waren alle männlich) und vor allem ihrer Aura. Einige outeten sich als Jusos, andere
bekannten sich zur SDAJ und auch einige anarchistische Neigungen kamen zum
Vorschein. Das bot sowohl Irritations- als auch Orientierungspotential. Aber bei
allen war die Grundstimmung irgendwie gegen das System. Gegen das war ich auch.
Ich kam ja aus dem damals „roten“ Ostertal und war damit schon geografisch
vorbelastet. Der Freizeit- und Fußballverein im Heimatdorf hieß „Roter Stern Bubach“, das sagt doch schon alles. 

Im Laufe der Ausbildung gab es auch Anregungen zur Lektüre: Die „Frau und der Sozialismus“ von August Bebel sollte es sein. Im Buch gab es dann später ein paar angestrichene Stellen, ich hab aber keine Ahnung ob ich damals dann schon direkt für den Sozialismus war, die Frauen wurden dann ja auch immer interessanter.

In der Ausbildungszeit waren wir mehrheitlich in der Gewerkschaft und waren
regelmäßig bei Seminaren wo wir aufgeklärt wurden, dass wir auch Rechte haben.
Ich hatte sowas schon geahnt. Der Gewerkschaftsmensch war damals eine Macht und
brachte uns sozialdemokratisches Zeugs bei. Zur Erinnerung: Das Fernmeldewesen
war damals noch in der Hand eines Staatsbetriebes. War gar nicht so schlimm,
kann man sich aber heute kaum noch vorstellen. Insgesamt war es dadurch aber so,
dass die Ausbildungszeit weniger mit Nazidrill (was damals noch teilweise
Standard war), als mehr mit Selbsterfahrung im Gruppenkontext in Erinnerung
blieb. Auch wenn der U-Stahl geschrubbt werden wollte (Insidergag).

Meine erste Juz-Initiative

Die politisch- musikalischen Ersterfahrungen in der Ausbildungszeit korrespondierten eng mit der Lebenswelt in meinem Heimatdorf. Die leuchtenden Vorbilder und Influencer waren etwa 5 Jahre älter und Jusos. So wollte ich auch sein. Bei den Jusos wurde damals das Thema selbstverwaltetes Jugendzentrum hoch gehandelt. Es wurde überlegt, auch für das Ostertal eins zu fordern. Ich war dabei. Die erste Versammlung unserer Unter-AG fand im Wohnzimmer meines Elternhauses statt. Ich durfte mein erstes Flugblatt schreiben. War zwar alles irgendwo geklaut – aber trotzdem auch selbstgemacht, handgemalt – von mir! Der Sound klang so: „Kaninchenzüchter züchten nur, Posaunenbläser blasen nur. Wir
wollen mehr. Wir wollen unsere Freizeit frei und nicht nach Stundenplan verbringen. Wir wollen Räume zum Musik hören und machen, zum diskutieren und lesen, Filme zeigen und mehr. Und das alles nicht unter Aufsicht und Kontrolle sondern selbstverwaltet!“ Oder so ähnlich. Das Logo „Alles was wir wollen – Freizeit ohne Kontrollen“ wurde auch gemalt.

Aus der Initiative wurde nichts, die damals konservativste Kommunalpolitik war im Rathaus St.Wendel zu Hause. Die politische Kampffront verlief damals noch klar getrennt zwischen der CDU-Trutzburg St.Wendel und dem „roten“ Ostertal. Die Machthaber in St.Wendel antworteten glaub ich, gar nicht mal auf unsere Anfrage nach Räumlichkeiten. Die kritische Masse für revolutionäre Taten kam auch nicht zustande und die Jusos hatten ja auch noch andere, sozialdemokratischere Themen.

AJZ Kuhstall

Nachdem das mit dem Juso-Juz nichts wurde, mussten andere Wege beschritten
werden, um einen Raum für gemeinschaftliches Dorfjugendleben zu schaffen. Gut,
dass damals bei uns die Nebenerwerbslandwirtschaft auslief, die Kühe aus dem
Stall entsorgt wurden und nur der Grundgeruch noch übrigblieb. Also, da wurde
ein Raum frei und die Idee stieg in mir auf, den auszubauen zu einer Art Loft. Ich legte also einen Dielenboden über die getrockneten Kuhfladen und bemalte die Wände. Dort wo früher die Kühe standen, lagen dann Matratzen und darauf wir. Wenn es kalt wurde, wurde ein elektrischer Heizofen aus Kriegszeiten angeschaltet. Es gab ja noch keine Klimakatastrophe.

Der Raum wurde dann zu einem Treffpunkt, zuerst für unsere Dorfclique, dann aber
auch mit Zulauf aus den Nachbardörfern. Darunter waren auch Interessierte
weiblichen Geschlechts. Ab da lag ein Flirren in der Luft. Nach ungeschicktem aber
erfolgreichen Vortasten wurden dann auch die ersten Knutscherfahrungen hier
gesammelt. Außerdem wurde viel über Politik diskutiert und Musik gehört. Die kam
aus dem Grundig-Kassettenrekorder, den ich von meinem Lehrlingsgehalt erstanden hatte. Dann wurde auch zusammen Musik gemacht, eine Gitarre lag immer rum, mein Cousin spielte gerne Flöte. Alkoholische Getränke gab es auch. Gegen den Kuhgeruch gab es Räucherstäbchen. Ich weiß nicht, was schlimmer war. Dazu fällt mir jetzt Hermann Hesse ein. Ich hab aber keine Idee, wo der zeitlich-biografisch einzuordnen ist.

Später kam dann auch ein gewisser Manni Weiss mal vorbei. Er wohnte hinter dem
Berg, war ein Zugezogener und lernte in einer Bank. Das kam mir verdächtig vor. Ich war ja seit August Bebel Sozialist. Da nahm das Schicksal dann seinen Lauf. Irgendwann stellte er eine ausrangierte Druckmaschine aus der Bank in den Kuhstall. Daraus wurde dann viel später, nach etlichen Irrungen und Wirrungen, die erste selbstverwaltete Druckerei im Saarland, der „Provinzdruck“. Doch das war später.

Zunächst folgen Erinnerungslücken und der nächste Schritt ging dann ins Juz St.Wendel. Das war dann schon auch Rebellion gegen die herrschenden Zustände – der Langeweile im Dorf. Das Juz war ein verruchter Schuppen. Es lag der Geruch von Hasch und Revolution in der Luft – vermischt mit kaltem Rauch und abgestandenem Bierdunst. Hierher kamen nur die Coolsten (damals hieß das noch anders). Politik wurde dort auch gemacht. Es ging gegen die AKWs und an vorderster Front kämpfte die örtliche „Liga gegen den Imperialismus“. Wow. Aber das ist eine andere Geschichte, die ihr unter Juz St.Wendel nachlesen könnt.

P.S. Bisher sind nur Texte aus den großen städtischen Jugendzentren hier vertreten. Von daher ist das hier auch als Würdigung des Dorfjugendlebens zu lesen, auch wenn in diesem Fall einiges danebenging.

TK

Wer in Heimatkunde nicht aufgepasst hat, hier ein Hinweis:

Indoktrination

Diese Juso-Broschüre bot Orientierung.

Was machen die denn hier?